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Wildes Küstenland

Reizvolle Regionen

Wildes Küstenland
Halbinsel Wustrow Foto: Rainer Kwiotek

Wo einst Soldaten patrouillierten, melden sich heute Neuntöter, Wasserbüffel und Seeadler zum Dienst. Sie bevölkern die wildschönen Naturparadiese entlang der Küste Mecklenburg-Vorpommerns – am besten besucht man sie per Kutsche oder Kajak.

Text: Rike Uhlenkamp / Fotos: Rainer Kwiotek

Seine schönsten Kindheitserinnerungen hat Herbert Bannow an die Tage, an denen er mit seinen Schulkameraden und den Lehrern ein Stück Land betreten durften, das für sie sonst Sperrgebiet war: die Halbinsel Wustrow. Umspült von der Ostsee auf der einen, vom flachen Wasser des Salzhaffs auf der anderen Seite und nur über eine schmale Landzunge mit dem kleinen Ostseebad Rerik verbunden, war Wustrow ab 1949 Stützpunkt der Roten Armee. Etwa 3000 Soldaten und ihre Familien lebten hier. Nur selten, zu russischen Feiertagen, luden sie die Nachbarn vom Festland zu sich ein.
„Wir sangen russische Lieder und bekamen Kakao und Bonbons geschenkt. Die gab es ja sonst nicht“, erinnert sich Bannow, mittlerweile 54 Jahre alt. Mit seinem Planwagen kutschiert er inzwischen mehrmals die Woche Besucher wie uns über die rund 1000 Hektar große Insel – vorbei an den Ruinen einer Wohnsiedlung, durch das Landschafts- und Naturschutzgebiet, zum baufälligen Flughafen-Tower, zum verlassenen Strand an der Ostsee.
Wegen ihr, der Ostsee, wegen der weißen Sandstrände und der zahlreichen Seebäder entlang ihrer Küste strömten schon zu DDR-Zeiten Jahr für Jahr Millionen Touristen ans Meer und auf die Ostseeinseln. Doch wie Wustrow, gelegen zwischen Wismar und Rostock, waren damals große Teile der Küstenlinie Mecklenburg-Vorpommerns Sperrgebiet. Die Ostsee markierte die nördliche Staatsgrenze der DDR. Nur an ausgewiesenen Strandabschnitten durften Einheimische und Besucher baden. Sich mit der Luftmatratze auf das Meer hinaustreiben zu lassen oder gar eine Bootstour zu unternehmen, war undenkbar. Zu kurz ist der Weg nach Schleswig-Holstein im Westen oder Dänemark im Norden.

Bannow schnalzt laut, zieht an der Leine. Vincent und Siggi, zwei Süddeutsche Kaltblüter, reagieren und ziehen den Planwagen weiter nach rechts. Seine Touren sind beliebt. „Wustrow durfte so lange nicht betreten werden, jetzt wollen viele wissen, wie es hier aussieht“, sagt Bannow. Neben ihm, vom Kutschbock, habe ich den besten Blick auf die Häuser einer ehemaligen Wohnsiedlung. Errichtet von den Nazis, die vor der russischen Besetzung auf Wustrow Deutschlands größte Flakartillerieschule betrieben, verteilen sich die etwa 90 Gebäude auf dem vorderen Teil der Insel. Gab es hier einst Geschäfte, eine Grundschule und ein Kino, ist in die verlassenen Gemäuer über die Jahre die Natur eingezogen. Bäume sind auf die Häuser gestürzt, aus zerborstenen Fenstern rankt Gestrüpp, Ziegel wurden von den Dächern gefegt. Nahezu ungestört vom Menschen ist die gesamte Halbinsel ein Eldorado für Pflanzen und Tiere. An einigen Stellen gedeiht die in Deutschland stark gefährdete Stranddistel, Rotwild stapft durch die dichten Büsche, Neuntöter, Sperbergrasmücken und etwa 90 weitere Brutvogelarten leben im Naturschutzgebiet.

Wilde Natur als DDR-Vermächtnis

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Etwa 100 Kilometer östlich von Rerik ist die Halbinsel Fischland-Darß-Zingst eine der sonnenreichsten Regionen Deutschlands. Doch nicht nur das Wetter lockt die Besucher, sondern vor allem die wilde Natur, die sich hier dank des letzten Beschlusses der DDR-Regierung ausbreiten kann. Am 12. September 1990 wurde die Errichtung von fünf Nationalparks, drei Naturparks und sechs Biosphärenreservaten auf dem Gebiet der entstehenden neuen Bundesländer besiegelt. Darunter auch der Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft. Auf über 800 Quadratkilometern breitet er sich auf der Halbinsel, über die Ostsee, die Boddengewässer, die Insel Hiddensee bis zur Westküste Rügens aus.

Wild gewachsen: der Darßwald Foto: R. Kwiotek

Auch der Darßwald im Westen der Insel ist Teil des Nationalparks. Als wir durch die grüne Welt aus Buchen, Kiefern und Adlerfarn spazieren, können wir uns kaum vorstellen, dass nur wenige Hundert Meter weiter die Wellen der Ostsee auf einen der schönsten Strände Deutschlands treffen: den 14 Kilometer langen wilden Weststrand. An ihm erkennt man die Kraft der Natur. Tag für Tag entreißt ihm das Meer Sand, trägt ihn mit der Strömung entlang der Küstenlinie gen Norden, um ihn an ihrer Spitze, dem Darßer Ort und östlich davon, wieder abzulegen. Aus Sandbänken und Dünen entsteht neues Land. Selbst große Teile des Darßwaldes sind durch diese Naturgewalt geboren. Nachdem der Wald in der DDR als Staatsjagdgebiet diente und lange Zeit schnellwachsende Bäume aufgeforstet wurden, wird er heute komplett sich selbst überlassen.

An anderen Stellen der Halbinsel und des Nationalparks wird hingegen bewusst in die Natur eingegriffen. Schafe weiden auf Deichen, treten sie fest und schützen so vor Deichbruch und Hochwasser. Rinder grasen auf Grünflächen. Für viele dieser tierischen Landschaftspfleger ist Thomas Möhring zuständig. Der 49-Jährige ist Tierproduktionschef von Gut Darß, einem Ökolandwirtschaftsbetrieb, der insgesamt 4500 Hektar auf der Halbinsel bewirtschaftet. Knapp die Hälfte davon liegt im Bereich des Nationalparks. Bei der Pflege der Flächen ist der Betrieb eingeschränkt: von den strengen Auflagen des Nationalparks und – auch außerhalb der Naturschutzgrenze – vom feuchten Gelände. Neben den 4500 Rindern und 2000 Schafen setzt das Gut deshalb auf Wasserbüffel.

„Komm auf keine blöden Ideen!“, zischt Möhring einen der dunklen Kolosse an, der wenige Zentimeter vor dem Kotflügel seines nagelneuen Geländewagens steht. „Wasserbüffel haben ihren eigenen Kopf und sind stur.“ Die Tiere gehen aber auch dorthin, wo normale Rinder freiwillig keine Klaue hinsetzen würden: „Die Büffel suchen förmlich nach den besonders feuchten Stellen und gehen richtig ins Wasser rein.“ Auf immer wieder überfluteten Flächen fressen sie am liebsten das frische Jungschilf. Nach und nach befreien sie so ganze Areale von dem Röhricht und schaffen die Grundlage für die an der Küste typischen Salzgraswiesen: ein Paradies für viele Bodenbrüter wie Seeschwalben und Alpenstrandläufer.

Thomas Möhring, der Chef der Wasserbüffel
Foto: Rainer Kwiotek

Möhrings wasserliebende Büffel passen perfekt in die Region. Der Nationalpark hat auch abseits der Ostseeküste viele wasserreiche Gebiete. Alleine 300 Kilometer entfallen auf die Ufer der Boddenkette. Das sind flachere Küstengewässer, die sich zwischen das Festland und die langgezogene Halbinsel quetschen.

Einzigartige Kaltwasserlagunen

Am Bodstedter Bodden, unweit von Gut Darß, herrscht eine mystische Stille, als wir in unsere Kajaks steigen. Zusammen mit Henrik Schmidtbauer, der seit über zehn Jahren Touren auf dem Wasser anbietet, wollen wir die Landschaft erkunden. „Die Bezeichnung Bodden kommt von Boden“, erklärt er. „Als die Bodden noch stärker von dem frischen Wasser aus der Ostsee durchströmt wurden, konnte man den Grund noch besser sehen.“  Einst war Fischland-Darß-Zingst keine Halbinsel, sondern bestand aus drei voneinander getrennten Inseln. Durch Seegatts, schmale Zugänge, mischte sich das Wasser aus Ostsee und Bodden. Stetig angespülter Sand und Sturmfluten schlossen die Durchlässe. Nur noch ganz im Osten der Halbinsel gibt es heute eine kleine Verbindung zur Ostsee. Aus den Bodden wurden so die weltweit einzigen Kaltwasserlagunen. Der geringe Austausch mit dem ohnehin salzärmeren Brackwasser der Ostsee ließ sie versüßen: Heimat für eine einzigartige Tier- und Pflanzenwelt.

Außer unseren Paddelschlägen auf dem Wasser gibt es im Lagunenparadies nur eine andere Art der „Ruhestörung“: das Schreien und Singen der Vögel. Schrille, laute Rufe eines Kiebitzes hallen über den Bodden, einige Weißwangengänse, arktische Gäste, eine Rohrweihe und Kraniche überfliegen uns.
Die Kraniche sind die heimlichen Stars der Region. Natur- und Vogelinteressierte strömen im Herbst vor allem ihretwegen in den Nationalpark. Zusätzlich zu den wenigen dauerhaft hier lebenden Exemplaren kommen dann Zehntausende der gefiederten Tiere und rasten auf dem Weg in ihre Winterquartiere auf den flachen Boddengewässern. „Mein Liebling ist aber der Seeadler“, sagt Schmidtbauer. Mehrmals erspähen wir den riesigen Greifvogel bei unserer Tour. „Mit ihm und mit den Kegelrobben leben Deutschlands größte Raubtiere in der Luft und im Wasser bei uns“, sagt der 56-Jährige ein wenig stolz. Die geschützten Gewässer der Bodden gelten auch als Kinderstube vieler Fische. In ihnen leben Brasse und Barsch, Aal und Zander.

Mit dem Hintern im Wasser die Ruhe genießen
Foto: Rainer Kwiotek

Da der starke Südwest-Wind das Wasser in den vergangenen Tagen aus der Lagune gedrückt hat und sie dadurch an einigen Stellen für uns und die Kajaks zu flach ist, müssen wir auf dem Weg zum benachbarten Bodden einen kleinen Umweg paddeln. Doch Henrik Schmidtbauer und wir haben keine Eile. „Ich freue mich, wenn wir eine Strecke schaffen, aber genauso gerne sitze ich mit meinen Gästen mitten auf dem Wasser. Sie sollen sich der Weite auf dem Bodden öffnen, hinhören, die Augen schließen.“
Noch gut erinnert sich Schmidtbauer, wie große Teile der Halbinsel zum Nationalpark wurden. Waren die Zäune der Grenzgebiete und Sperrzonen gerade gefallen, gab es bald neue Regeln für das Betreten der Kernzone des Nationalparks und das Befahren der Gewässer. „Das war und ist für die Natur natürlich toll, aber nach den 40 Jahren, in denen die Menschen eingesperrt waren, kamen die Verbote nicht gut an.“ Statt mit dem erhobenen Zeigefinger zu mahnen, will er seine Gäste die Natur fühlen lassen, ihnen ihre Schönheit zeigen. „Wir schützen nur, was wir lieben.“
Ich nehme das Paddel aus dem Wasser, lege es quer vor mich auf das Kajak. Das Boot schaukelt auf und ab. Als ich meine Augen wenige Momente später wieder öffne, hat die Sonne den Himmel in ein violettes Farbenmeer verwandelt. Schmidtbauer hat seine Mission erfüllt.

Der vollständige Text erschien in der Ausgabe natur 7/19, welche Sie hier bestellen können.

Tipps

Na dann Prost!
In Wismar wurde schon im 15. Jahrhundert viel Bier gebraut, getrunken und sogar europaweit exportiert. Damals wie heute beliebt: die „Wismarer Wumme“. Im Brauhaus am Lohberg am Hafen kann man das dunkle Starkbier unter getrockneten Hopfenranken probieren.

Geschichte in jeder Ecke
Wie haben die Menschen in Rerik früher ihr Geld verdient? Welche Utensilien haben sie in der Küche benutzt und woher kommt eigentlich die Bezeichnung Jammerlappen? Antworten gibt es im Heimatmuseum in Rerik. Museumsleiter Thomas Köhler führt einen mit großer Begeisterung durch die Fossiliensammlung oder die Abteilung zur früheren Bademode.

Hinter verschlossenen Toren
Wer der Halbinsel Wustrow einen Besuch abstatten möchte, sollte sich bei Herbert Bannow anmelden. Auch mit Wustrow-Experte Klaus Feiler kommen Gäste am Wachtposten vorbei. Seine Spaziergänge führen durch die ehemalige Wohnsiedlung. Infos gibt‘s auf der Website des Ostseebads Rerik.

Auf dem Wasser
Nicht nur auf den Bodden unterwegs: Gäste, die etwas Übung mit Seekajaks haben, können mit Henrik Schmidtbauer auch auf die Ostsee. Es gibt auch eine Kids-Tour. Ab 69 € pro Person.

Zum Leuchtturm
Auf Bohlenwegen, am Strand, durch den Wald: Der Rundwanderweg zum Leuchtturm Darßer Ort im Nordwesten des Darßes führt durch die Kernzone des Nationalparks. Der Fußweg von Prerow dauert etwa 75 Minuten. Wer lauffaul ist, setzt sich auf‘s Leihfahrrad, in die Kutsche oder Darßbahn.

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Serie: Hervorragend – Junge Menschen und ihr Engagement
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♦ Ma|gnet|schwe|be|bahn  〈f. 20; Tech.〉 Bahn mit magnetischer Aufhängung

♦ Die Buchstabenfolge ma|gn… kann in Fremdwörtern auch mag|n… getrennt werden.

Ei|chen|wick|ler  〈m. 1; Zool.〉 zu den Wicklern gehörender grüner Kleinschmetterling, dessen Raupen durch Kahlfraß an Eichen sehr schädlich werden können: Tortrix viridana

Kunst|hand|wer|ker  〈m. 3〉 jmd., der im Kunsthandwerk tätig ist

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