„Die wenigsten der 1,4 bis 1,9 Millionen Medikamentensüchtigen in Deutschland sind sich ihrer Abhängigkeit bewusst“, sagt auch Gerd Glaeske, Leiter der Versorgungsforschung mit Arzneimitteln an der Universität Bremen gegenüber ddp. „Sie sind mit unbestimmten Beschwerden zum Arzt gegangen und haben ein Medikament verschrieben bekommen, oft ohne ausreichend über die Suchtgefahr informiert zu werden. Der Beipackzettel entbindet den Mediziner aber nicht von seiner Aufklärungspflicht.“
Anfällig für die Tablettensucht sind vor allem Frauen: „Sie sind diejenigen, die Kranke pflegen oder eine Familie versorgen und sich deshalb Wissen über Medikamente aneignen“, erklärt Christa Merfert-Diete von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS). „Männer dagegen verknüpfen Tabletten geistig oft mit Krankheit und Schwäche und halten sich von ihnen fern.“ Vor allem in den Wechseljahren greifen Frauen vermehrt zu Medikamenten. „In diesem Alter kommt es verstärkt zu Krisen, viele Frauen fühlen sich allein, nutzlos und entwertet, vor allem wenn sie vorher Kinder großgezogen haben, die jetzt aus dem Haus sind“, beschreibt Glaeske den Vorgang.
Zahlen der DHS zeigen, dass 20 Prozent aller Frauen und knapp 25 Prozent aller 50- bis 59-jährigen mindestens einmal wöchentlich ein Medikament mit Suchtpotenzial einnehmen. Die schlimmsten Süchtigmacher sind dabei Schlafmittel, Beruhigungsmittel, Schmerzmittel, Aufputschmittel und Appetitzügler, wobei zwei Drittel aller Fälle auf das Konto der Schlafmittel gehen.
Die bekanntesten Substanzen dieser Gruppe sind die sogenannten Benzodiazepine, die in den sechziger Jahren mit Valium und Librium international bekannt wurden. „Die Sucht ist bei diesen Stoffen praktisch vorprogrammiert, da schon nach zwei bis sechs Wochen eine Gewöhnung eintritt“, erklärt Glaeske. „Nach drei Monaten der Einnahme sind achtzig Prozent der Menschen abhängig.“ Da überrascht es kaum, dass von den laut der DHS im Jahr 2006 knapp 155 Millionen verkauften Packungen von Schmerz- und Betäubungsmitteln schätzungsweise jede zwölfte nicht wegen Krankheiten, sondern zur Erhaltung einer Medikamentensucht erworben wurde.
Experten empfehlen deshalb, bei Verwendung eines Medikaments mit Suchtpotenzial unbedingt die 4-K-Regel zu beachten: „Klare Indikation“, „Kleine Dosen“, „Kurze Anwendungsdauer“ und „Kein abruptes Absetzen“. Der letzte Punkt ist besonders wichtig, da beim Entzug schwere Nebenwirkungen entstehen können. „Die Entzugserscheinungen sind bei Benzodiazepinen schlimmer als bei Heroin“, warnt Glaeske. Zur Entgiftung sollten Betroffene deshalb am besten ein Krankenhaus aufsuchen, wo der Vorgang professionell überwacht wird.
Hilfe bei der Wahl der richtigen Klinik und Informationen zur Bezahlung der Therapie bieten kommunale Beratungsstellen an. „Dort sitzen viele ausgebildete Ärzte, die kostenlos weiterhelfen“, erklärt Merfert-Diete von der DHS. „Dort kann auch geklärt werden, wer die Kosten der Behandlung übernimmt. Meist ist das die Kranken- oder die Rentenkasse.“
Der erste Schritt vor jeglicher Maßnahme ist aber das eigene Erkennen der Sucht, denn ohne das ist jede Hilfe nutzlos. Die DHS empfiehlt daher, bei regelmäßigem Medikamentenkonsum das eigene Handeln sehr kritisch zu beobachten: Medikamente im Handschuhfach des Autos, das Horten eines Vorrats oder die Verheimlichung des tatsächlichen Tablettenkonsums zum Beispiel sind Warnzeichen einer möglichen Sucht. „Viele Menschen werden auch im Urlaub oder während eines Krankenhausaufenthalts auf ihre Abhängigkeit aufmerksam“, erzählt Glaeske. „Sie denken: Ich geh ja nicht zur Arbeit, da brauche ich die Tabletten nicht, und werden von Entzugserscheinungen völlig überrascht.“
Doch selbst nach diesen deutlichen Alarmzeichen wird eine Sucht häufig nicht erkannt. In vielen Fällen gleichen die Entzugserscheinungen nämlich genau den Beschwerden, gegen die das verschriebene Medikament ursprünglich helfen sollte: Das Absetzten von Kopfschmerzmitteln verursacht Kopfschmerzen, das von Beruhigungsmitteln macht unruhig und das von anregenden Wirkstoffen macht müde und niedergeschlagen. Sogar Ärzte halten die Symptome häufig für eine Wiederkehr der anfänglichen Beschwerden, und nicht für ein Merkmal der fortgeschrittenen Gewöhnung.