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Sexualparasitismus mit medizinischer Relevanz

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Sexualparasitismus mit medizinischer Relevanz
Ein weiblicher Tiefseeanglerfisch ist am Bauch mit einem winzigen Männchen verwachsen. (Bild: Edith A. Widder)

Ihr Fortpflanzungssystem ist so bizarr wie ihr Aussehen: Bei den Tiefsee-Anglerfischen wachsen die Männchen an den Weibchen fest und es entsteht ein gemeinsamer Blutkreislauf. Warum es bei diesem sogenannten Sexualparasitismus nicht zu Abstoßungsreaktionen wie bei Transplantationen kommt, haben nun Forscher aufgeklärt. Die Anglerfische haben demnach bestimmte Immunfunktionen ausschaltet, ohne aber ihre Widerstandsfähigkeit zu verlieren. Genauere Untersuchungen dieser Fähigkeit könnten deshalb für die Medizin interessant sein, sagen die Wissenschaftler.

Sie leben in der Finsternis und locken Beute mit einer leuchtenden Angel in ihr riesiges Maul. Diese bizarre Merkmalskombination der auch Seeteufel genannten Anglerfische wird von ihrer Fortpflanzungsstrategie noch übertroffen. Da sich Partner in den Weiten ihres Tiefsee-Lebensraums selten treffen, stellen die Männchen einen buchstäblich verbindlichen Kontakt mit den Weibchen her: Nach dem Andocken wachsen die Winzlinge an ihren viel größeren Damen fest. Dabei verbinden sich die Gewebe der Partner und es entsteht ein gemeinsamer Blutkreislauf, der das verkümmerte Männchen mit Nährstoffen versorgt. Deshalb wird diese Fortpflanzungsstrategie auch als sexueller Parasitismus bezeichnet.

Warum keine Gewebeabstoßung?

Aus biologischer und medizinischer Sicht wirkt diese Verbindung höchst erstaunlich. Denn normalerweise ist bei einem engen Kontakt von genetisch unterschiedlichen Geweben mit Abwehrreaktionen zu rechnen. Denn das Immunsystem von Wirbeltieren reagiert auf fremde Zellstrukturen normalerweise ebenso wie auf Krankheitserreger. Aus diesem Grund werden Abwehrreaktionen bei Organtransplantationen durch Medikamente unterdrückt und die Gewebeeigenschaften von Spender und Empfänger müssen bestmöglich abgestimmt werden.

Das Forscherteam um Jeremy Swann vom Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg ist nun der Frage nachgegangen, warum sich bei den Seeteufeln Individuen verbinden können, ohne dass es zu einer Gewebeabstoßung kommt. Sie untersuchten dazu die Genome verschiedener Seeteufelarten. Im Fokus standen dabei Erbanlagen, die für die Bildung der sogenannten Haupthistokompatibilitäts-Antigene (MHC) verantwortlich sind. Sie sitzen auf der Oberfläche von Körperzellen und lösen im Immunsystem Alarm aus, wenn Krankheitserreger vorhanden sind. Diese Antigene haben auch eine wichtige Rolle in der Transplantationsmedizin: Es gilt, ähnliche MHC-Formen bei Spendern und Empfängern zu finden, um nach der Organübertragung möglichst geringe Abstoßungsreaktionen zu gewährleisten.

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Erstaunlicher Verlust von Immunfunktionen

Bei ihren genetischen Analysen stellten die Forscher nun fest, dass die Seeteufel die Gene zur Herstellung der MHC-Moleküle ausgeschaltet haben. Es scheint, als hätten sie diesen Aspekt der körperlichen Abwehr zugunsten ihres skurrilen Fortpflanzungssystems einfach abgeschafft. „Abgesehen von dieser ungewöhnlichen MHC-Konstellation haben wir auch entdeckt, dass zusätzlich die Funktion von Killer-T-Zellen in ihrer Wirkung stark eingeschränkt, wenn nicht ganz verloren ist. Normalerweise eliminieren sie infizierte Zellen oder greifen fremdes Gewebe während der Abstoßungsreaktion an. Diese beiden überraschenden Ergebnisse zeigen uns, dass das Immunsystem von Seeteufeln unter den Zehntausenden anderer Wirbeltierarten extrem ungewöhnlich ist“, sagt Swann.

Die Forscher stießen noch auf weitere Hinweise darauf, dass das Immunsystem der Anglerfische erstaunliche Merkmale besitzt. Einige Arten bilden offenbar auch keine Antikörper, die neben den Killer-T-Zellen in unserem Immunsystem eine entscheidende Rolle für die sogenannte erworbene Immunabwehr spielen, die sich auf spezielle Angreifer einstellen kann. „Für den Menschen würde der Verlust solch wichtiger Funktionen der erworbenen Immunantwort zu einer tödlichen Abwehrschwäche führen“, betont Co-Autor Thomas Boehm vom MPI. Offensichtlich können die Anglerfische jedoch auch ohne die adaptiven Immunfunktionen überleben.

Potenzial für die Medizin

Den Forschern zufolge liegt somit nahe, dass diese Vertreter der Wirbeltiere erstaunlich effektive angeborene Immunfunktionen besitzen, um sich vor Infektionen zu schützen. „Wir gehen davon aus, dass bisher unbekannte Umweltbedingungen Veränderungen im Immunsystem bewirkten, die dann für die Evolution des sexuellen Parasitismus genutzt wurden“, sagt Boehm. Unter den untersuchten Angelerfischarten haben die Wissenschaftler auch einen Vertreter entdeckt, dessen Immunsystem und Fortpflanzungsweise noch ein Zwischenstadium zu repräsentieren scheint. „Das ungewöhnliche System scheint in dieser Gruppe von Fischen demnach im Verlauf der Evolution mehrmals unabhängig voneinander entstanden zu sein“, sagt Co-Autor Ted Pietsch von der University of Washington.

Wie die Wissenschaftler betonen, gilt es nun, das Immunsystem der Anglerfische noch genauer zu entschlüsseln. Denn neben der biologischen Bedeutung zeichnet sich auch erhebliches Potenzial für die Medizin ab: Vielleicht können die skurrilen Fische Hinweise für die Entwicklung von Strategien geben, um die angeborene Immunität bei Patienten mit ererbter oder erworbener Immunschwäche zu verbessern, schreiben die Forscher.

Quelle: Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik, Fachartikel: Science: 10.1126/science.aaz9445

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