Pflanzen wissen sich gegen tierische Fressfeinde durchaus zu wehren: Viele von ihnen produzieren chemische Substanzen, darunter Polyphenole, die ihre Blätter und Stängel für viele Insekten weitgehend unverdaulich machen. „Diese Polyphenole kommen in vielen Pflanzen in hohen Konzentration von einem bis 25 Prozent des Blatt-Trockengewichts vor“, erklären Manuel Liebeke vom Imperial College London und seine Kollegen. Werden diese Pflanzenteile gefressen, binden die Polyphenole an wichtige Verdauungsenzyme und blockieren sie so. Säugetiere können diesen Pflanzenstoffen mit Hilfe von Peptiden kontern, die die Polyphenole in ihrem Darm einhüllen und unschädlich machen. Ein Rätsel blieb aber bisher, wie Regenwürmer sich gegen die Wirkung der Polyphenole schützen. Denn sie gehören zwar zu den wichtigsten Verwertern von abgestorbenem Pflanzenmaterial in Streuschicht und Böden, doch mit bisherigen Methoden ließen sich im Darm der Tiere keinerlei offensichtliche Schutzmoleküle oder Mechanismen gegen Polyphenole aufspüren.
Liebeke und seine Kollegen sind nun mit einer neuen Methode doch fündig geworden. Sie analysierten für ihre Studie schockgefrorene Regenwürmer mit der sogenannten MALDI-Massenspektrometrie. Dabei werden die chemischen Bestandteile einer Probe mittels Laserstrahl ionisiert und einige Bestandteile herausgelöst und so der Analyse zugänglich gemacht. Der große Vorteil: „Wir können damit jedes Molekül beispielsweise in einem Regenwurm finden und lokalisieren“, sagt Liebeke. Und tatsächlich zeigte sich bei diesen Analysen im Vorderdarm der Würmer eine auffällige Anreicherung eines zuvor unbekannten Moleküls. Diese komplexe, schwefelhaltige organische Verbindung fand sich in allen 14 untersuchten Regenwurmarten – und das in erstaunlich hohen Mengen: Immerhin ein Prozent der gesamten Trockenmasse der Würmer machte dieses Molekül aus und 20 Prozent ihres gesamten Schwefelbudgets, wie die Forscher berichten.
Ein Kilo Drilodefensin pro Kopf
War dies das lange gesuchte Gegenmittel gegen die pflanzlichen Polyphenole? Um das herauszufinden, untersuchten die Forscher die Reaktion der Verbindung mit gelösten Polyphenolen und führten Fütterungsversuche mit Regenwürmern durch. Das Ergebnis: Die Drilodefensin getaufte Substanz wirkt im Darm der Würmer wie ein Tensid: Sie lagert sich an die Polyphenole an, schließt sie in kleinen Bläschen ein und hemmt dadurch ihre verdauungsstörende Wirkung. Die Regenwürmer bilden zudem umso mehr Drilodefensin, je mehr Polyphenole ihre Nahrung enthält. „Das deutet darauf hin, dass die Drilodefensine eine biochemische Anpassung der Regenwürmer darstellen, durch die sie mit polyphenolreicher Nahrung zurechtzukommen“, so die Wissenschaftler.
Damit aber spielen diese Moleküle auch eine entscheidende Rolle für das gesamte Bodenökosystem und den Kohlenstoffkreislauf – sowohl in ihrer Menge als auch in ihrer Wirkung. „Ohne diese Drilodefensine würden abgefallene Blätter sehr lange Zeit auf dem Boden liegenbleiben und gewaltige Schichten bilden“, sagt Koautor Jake Bundy vom Imperial College London. „Das ganze System des Kohlenstoff-Recyclings wäre unterbrochen.“ Auf jeden Menschen der Erde kommt im Boden ein Kilogramm Drilodefensin, gespeichert und produziert in den unzähligen Regenwürmern dieses Lebensraums, wie die Forscher ausrechneten. Allein die Böden in Europa enthalten eine Million Tonnen Drilodefensin. „Erst das Drilodefensin unterstützt die Regenwürmer bei ihrer wichtigen Rolle als Ökosystem-Ingenieure“, so das Fazit der Wissenschaftler.