Die Suppenschildkröte könnte dagegen schon bald das Prädikat „vom Aussterben bedroht“ tragen nicht, weil sie es tatsächlich ist, sondern weil ihre Bestände kontinuierlich sinken. Eine Beurteilungspraxis, die eine sinnvolle Prioritätensetzung und damit einen effizienten Artenschutz verhindert, darin sind sich viele einig. Dabei bezweifelt prinzipiell niemand den Wert der Roten Liste. „Die Rote Liste wird nach wie vor dringend gebraucht: Sie ist nicht nur ein Kontrollinstrument, das uns sagt, ob wir im Artenschutz die richtigen Maßnahmen ergreifen, sondern sie erhöht auch den politischen Stellenwert des Naturschutzes“, erläutert Volker Homes, Artenschutzexperte beim World Wide Fund For Nature (WWF).
Die Naturschutzorganisation beschäftigt viele Experten, die bei der IUCN mitarbeiten und das Beurteilungssystem ebenfalls für verbesserungswürdig halten: „Ich fände es sehr sinnvoll, wenn man auch die absolute Individuenzahl betrachten würde, anstatt nur auf die prozentuale Veränderung zu schauen. Oder wenn man mit Hilfe von Unterkategorien Prioritäten setzen könnte. Sozusagen ein ’stark gefährdet mit Sternchen‘.“
Die Diskussion als Chance, so beurteilen die meisten die Lage. Aber aus Angst, dem Ansehen der Roten Liste zu schaden, haben sich bislang viele Wissenschaftler mit öffentlicher Kritik an der IUCN zurückgehalten. Hinter verschlossenen Türen wird hingegen schon seit langem gefordert, das Kriteriensystem den aktuellen Anforderungen anzupassen, berichtet Gerhard Ludwig vom Bundesamt für Naturschutz (BfN): „Von Vertretern des BfN wurde bei Workshops der IUCN eine grundlegende Überarbeitung des Kriteriensystems bisher erfolglos angemahnt. Bei Treffen von Spezialisten zur Erstellung Roter Listen wurde ebenfalls immer wieder deutliche Kritik geübt.“ In der Realität sind die Kriterien ohnehin längst überholt: „Zwar bezeichnen die meisten Mitgliedsstaaten ihre nationalen Roten Listen als IUCN-Listen, aber fast alle haben längst die Kriterien verändert oder gar völlig abweichende Kriterien festgelegt.“
Die Experten des BfN setzen jedoch nicht nur auf Kritik: Sie entwickelten für die deutsche Rote Liste, die derzeit für über 30.000 Arten erarbeitet wird, ein neues Bewertungssystem, das sie der IUCN als Lösungsansatz präsentieren wollen. Die wichtigsten Verbesserungen: Es werden Individuenzahlen erfasst und bewertet. Zudem wird über die Betrachtung des Aussterberisikos hinaus auch die historisch gewachsene Artenvielfalt berücksichtigt und für jede Art individuelle Schwellenwerte benannt. Eine sinnvolle Maßnahme, da zum Beispiel 350 Mauritiussittiche immer noch bessere Überlebenschancen haben als 350 Ameisen. Außerdem sollen die Roten Listen künftig Aussagen über die Verantwortung Deutschlands zur weltweiten Erhaltung einer Art treffen: „Wenn es eine gefährdete Art nur oder nur noch in Deutschland gibt, sind Schutzmaßnahmen dringlicher, als wenn die Art bei uns abnimmt, in benachbarten Ländern aber noch häufig vorkommt“, erläutert Ludwig.
Abgesehen von der Kritik an der IUCN sehen sowohl Ludwig als auch Homes das begrenzte Wissen als großes Problem des Artenschutzes an. Aber Wissen kostet Geld, und das ist in Sachen Umwelt- und Naturschutz nach wie vor knapp. „Für die Erstellung der Roten Liste steht in Deutschland bisher weniger als ein Zehntel der Mittel bereit, die in Österreich und der Schweiz zur Verfügung stehen. Daher sind wir nahezu vollständig auf ehrenamtliche Mitarbeiter angewiesen“, stellt Ludwig fest.
Neben mehr Geld für den Artenschutz wünschen sich die beiden Experten vor allem, dass gefährdete Arten auch tatsächlich geschützt werden. Denn in Deutschland stehen selbst Tiere und Pflanzen, die als „vom Aussterben bedroht“ eingestuft werden, deshalb noch lange nicht unter Schutz. „Rote-Liste-Arten sollten einen wirksamen gesetzlichen Schutz erfahren, dessen Missachtung dann auch mit empfindlichen Geldstrafen zu ahnden ist“, fordert Ludwig.