Unsere genetische Information ist auf dem Erbmaterial DNA gespeichert – einem strickleiterartig gewundenen Doppelstrang, der von Basenpaaren zusammengehalten wird. Würde man die DNA aus nur einer einzigen Zelle der Länge nach auslegen, wäre sie zwei Meter lang. Die gesamte DNA unseres Körpers würde aneinandergelegt sogar eine Kette bilden, die von hier bis zum Pluto reicht. Das weckt jedoch die Frage, wie die Natur diese enorm langen DNA-Stränge in dem nur sechs Mikrometer kleinen Zellkern verstauen kann. Denn bei der Zellteilung bildet unser Erbgut schließlich 23 ordentliche Chromosomenpaare – die DNA muss in ihnen auf gewisse Weise komprimiert und gefaltet sein. Wie genau, das ist erstaunlicherweise auch mehr als 60 Jahre nach Entdeckung der DNA-Struktur nicht geklärt. Bekannt ist nur, das die DNA-Stränge sich mit Proteinen zum sogenannten Chromatin zusammenlagern. Dieses besteht aus rundlichen Gebilden, die wie Perlen an einer Schnur aufgereiht sind, wie Röntgenkristallografie und Mikroskopaufnahmen belegen.
Eine „widerspenstige Herausforderung“
Doch zur höheren Ordnung dieser „Perlenketten“ gibt es bisher nur Theorien, denn sie in intakten Zellen zu beobachten, ist bisher noch nie gelungen. „Es ist eine der kniffligsten Herausforderungen der Biologie, diese höhere Struktur der DNA zu beobachten und zu sehen, wie sie mit der Funktion des Genoms verknüpft ist“, erklärt Studienleiterin Clodagh O’Shea vom Salk Institute for Biological Studies in La Jolla. Der gängigen und in den meisten Lehrbüchern verewigten Theorie nach lagern sich die Chromatin-„Perlenketten“ zu immer dicker werdenden Fasern zusammen, zunächst von 30, dann von 120 und 320 Nanometern Dicke. Diese kombinieren sich schließlich zu den Chromosomen. Beweisen ließ sich dies bisher aber nicht, weil es an geeigneten, zerstörungsfreien Abbildungsmethoden fehlte. „Das Chromatin, das man aus dem Zellkern extrahiert und bearbeitet hat, sieht ganz anders aus als im Naturzustand in der Zelle“, erklärt Erstautor Horng Ou vom Salk Institute.
Um hier Abhilfe zu schaffen, haben Ou und seine Kollegen systematisch nach einem Farbstoff und einer Mikroskopietechnik gesucht, die die Chromatinstruktur sichtbar macht, ohne sie dabei zu verändern oder zu zerstören. Und es gelang: Sie entdeckten einen fluoreszierenden Anthraquinon-Farbstoff, der selektiv an die DNA bindet. Wird dieser Farbstoff bestrahlt, löst dies chemische Reaktionen aus, durch die sich ein metallhaltiges Kontrastmittel an die DNA anlagert. Dies wiederum ist die Voraussetzung, um die Struktur des Erbmaterials mittels Elektronenmikroskopie sichtbar zu machen, wie die Forscher erklären. Im letzten Schritt bereiteten sie Proben von Zellen im Ruhezustand und während der Teilung auf diese Weise vor und untersuchten sie in einem Elektronenmikroskop, das durch Neigen der Probe auch dessen 3D-Struktur abbilden kann. „Dieses ChromEMT ermöglicht erstmals die direkte Visualisierung des Chromatins in dem Größenbereich, der für den Zellkern biologisch relevant ist“, konstatieren Ou und seine Kollegen.
Ganz anders als gedacht
Die große Überraschung: Die Forscher fanden keine Spur von den in den Lehrbüchern postulierten Fasern wachsender Dicke. Von säuberlichen Strukturen höherer Ordnung war nichts zu sehen. Stattdessen bildet das Chromatin große, unordentliche Cluster, in denen das Erbmaterial auf jeweils ganz verschiedene Weise gefaltet und verknäuelt ist: „Wir beobachten zum Beispiel Chromatinketten mit kurzen geraden Abschnitten, in denen das Chromatin wie gestapelt erscheint“, berichten die Wissenschaftler. „Dann wieder gibt es Chromatinketten mit einer helixartigen Windung. Ein weiteres wiederkehrendes Muster ist die Bildung von Schleifen verschiedenster Größe innerhalb und zwischen den Chromatinketten.“ Diese verschiedenen Strukturen führen dazu, dass die Packungsdichte der DNA je nach Genregion variiert. Nach Ansicht der Forscher könnte dies darüber entscheiden, welche Genregion für das Ablesen zugänglich ist und welche nicht.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Chromatin gar keine festen Strukturen höherer Ordnung bilden muss, um in den Zellkern zu passen“, sagt O’Shea. „Stattdessen liefert die Packungsdichte die Basis für die verschiedenen Strukturen und kontrolliert die funktionelle Aktivität und die Zugänglichkeit unseres Erbguts.“ Diese Erkenntnis klärt nicht nur endlich die Frage, wie die DNA im Zellkern geordnet ist, sie könnte auch bedeuten, dass demnächst die Lehrbücher umgeschrieben werden müssen. „Die Visualisierung des Chromatinfadens im Zellkern ist eine bahnbrechende Errungenschaft“, schreiben Daniel Larson und Tom Misteli vom US National Cancer Institute in einem begleitenden Kommentar. „Sie eröffnet neue Wege, die Chromatinstruktur im Hinblick auf ihre Funktion zu erkunden.“