Als die Immunologin an die NIH berufen wurde, weckte ein junger Krebsforscher aus dem Nachbarlabor erneut ihre Zweifel. Ephraim Fuchs war überzeugt, daß der Körper nicht zwischen Selbst und Fremd unterscheiden kann. Er drängte mich, über ein neues Modell nachzudenken.“ Bald stellte Polly Matzinger ihre provozierende These auf: Der Körper reagiert nicht auf „fremd“, sondern auf „Gefahr“. Und: Das Immunsystem stuft als gefährlich ein, was Schaden anrichtet. Warum diese Unterscheidung keine Haarspalterei ist, erklärt Matzinger ihrem Publikum an einigen Beispielen:
Die werdende Mutter stößt den heranwachsenden Fötus nicht ab, weil er nicht Gefahr signalisiert. „Ein Fötus kann gefährlich sein“, erklärt Matzinger, „wenn er zum Beispiel infiziert ist oder einen falschen Rhesusfaktor hat und Schaden anrichtet – dann kommt es zum spontanen Abort.“
Dieser neue Blickwinkel hat weitreichende Konsequenzen: Viele immunologische Krebstherapien sind besser als die Experimente glauben machen. „Aber weil die Mediziner noch im alten Impfstoff-Modell verhaftet sind, werden diese Therapien nicht voll genutzt.“ Bisher wird geimpft und nachgeimpft – mehr nicht. Das schützt vor einer Virusinfektion – etwa bei Kinderlähmung – aber nicht so, wie man sich den Mechanismus bisher erklärt hat: Demnach würde das Immunsystem durch eine gewollte Infektion mit getöteten oder geschwächten Polio-Viren aktiviert, weil der Körper sie als fremd erkennt. Bei einer späteren Attacke mit den „echten“ Polio-Viren würde dann schnell eine wirksame Immunantwort ausgelöst.
Matzinger führt dagegen die Immunreaktion darauf zurück, daß sowohl bei der Impfung als auch bei der späteren Infektion mit den Viren immer Gewebe geschädigt wird. Dann funken die Zellen das „Signal 0“. Der Organismus kennt die Viren schon durch die Impfung, reagiert jetzt aber auf die Schädigung des Gewebes bei der echten Infektion – nicht auf die Eindringlinge als „Fremde“.
Krebszellen dagegen sind gesunde, unkontrolliert wachsende Zellen, die bis zum Endstadium der Krankheit das umliegende Körpergewebe nicht schädigen – und deshalb keinen Anlaß zu einer Abwehrreaktion geben. Bei den experimentellen Krebsimpfungen entsteht jedoch ebenfalls ein kleiner Gewebeschaden, auf den das Immunsystem reagiert, die Krebszellen jetzt als Schädiger identifiziert und angreift. Weil weitere Gewebeschäden ausbleiben, klingt die Immunantwort nach einigen Wochen ab – die Krebszellen wuchern erneut. Matzinger empfiehlt deswegen: „Wenn es gewirkt hat, dann impft immer wieder, um die Krebszellen immer wieder ins Visier des Immunsystems zu stellen.“