Erst in den letzten Jahren ist klar geworden, dass es bei benachbarten Abschnitten einer Störungszone manchmal eine Art Domino-Effekt gibt: Ein Abschnitt nach dem anderen bricht. An der nordanatolischen Verwerfung in der Türkei rücken die Erdbeben seit 1939 immer weiter von Ost nach West vor. Jedes der Erdbeben erhöhte offenbar die Spannung im jeweils nächsten Segment bis nahe an die Belastungsgrenze. Da die Bewegung der Platten ständig weiter an der Störungszone zerrte, kam es dort bald zum nächsten Bruch.
„Doch ganz so simpel ist es nicht immer“, sagt Tilmann. Das zeige zum Beispiel das Erdbeben vom 26. Dezember 2004 vor Sumatra. Dort folgten zwar 2005 und 2007 weitere starke Beben an der gleichen Plattengrenze, doch ein Abschnitt zwischen den beiden geborstenen Segmenten blieb ruhig. Das Beben von 2007 ging zudem an einem Punkt los, an dem sich die Spannung Berechnungen zufolge nur minimal erhöht hatte. „Die Beben hatten sicherlich etwas miteinander zu tun, aber wir verstehen noch nicht, was da genau abgelaufen ist“, sagt Tilmann.
Auch in Japan lässt sich Genaueres derzeit nur schwer sagen. Dort ist die Tektonik besonders kompliziert. Im Süden schiebt sich die Philippinische Platte unter die Eurasische Platte, im Norden, am Japan-Graben, bewegt sich die Pazifische Platte unter die Nordamerikanische Platte. Auch die beiden Ozeanplatten kollidieren, wobei die Pazifische Platte in die Tiefe gedrückt wird. Das Beben vom 11. März ereignete sich am Japan-Graben. Dabei ruckte ein 300 Kilometer langer und hundert Kilometer breiter Abschnitt der Pazifischen Platte auf einen Schlag 15 bis 20 Meter nach Osten vor. Wie stark diese enorme Umlagerung die Spannung am südlich gelegenen Nankai-Graben erhöht hat, wo sich das gefährdete Tokai-Segment befindet, müssen Seismologen nun ausrechnen.
Dass von dem Abschnitt Gefahr ausgeht, hatte der japanische Seismologe Katsuhiko Ishibashi 1976 herausgefunden. Während die beiden Abschnitte weiter westlich 1944 und 1945 gebebt hatten, ereignete sich am Tokai-Segment zuletzt 1854 ein Beben der Magnitude 8,4. Davor hatte es dort 1707, 1605 und 1498 ähnlich starke Erdstöße gegeben, im Schnitt alle 110 Jahre. „Das Tokai-Beben ist also überfällig“, meint Frederik Tilmann. Wenn die verhakten Platten nachgeben, rechnet die japanische Regierung mit knapp 6000 Toten und 190.000 zerstörten Gebäuden allein in der Präfektur Shizuoka. Da die Plattengrenze unter Wasser liegt, droht zudem ein bis zu neun Meter hoher Tsunami. Das Japanische Erdbebenkomitee errechnete bereits 2009, dass das Tokai-Beben mit einer Wahrscheinlichkeit von 87 Prozent innerhalb der nächsten 30 Jahre eintreten wird.