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Von Schweresteinchen und Sensormolekülen

Erde|Umwelt

Von Schweresteinchen und Sensormolekülen
Wurzeln wachsen nach unten und das Grüne wächst nach oben. Diese Aussage trifft auf die meisten Pflanzen zu – und sie erscheint banal. Doch die Tatsache, dass sich die Wurzeln praktisch immer nach unten und die Sprosse nach oben orientieren, ist alles andere als unbedeutend: Nur diese Besonderheit erlaubt es den Pflanzen schließlich, mit den Wurzeln Wasser und Mineralien aus dem Boden aufzunehmen und gleichzeitig für die Photosynthese ihre Blätter dem Sonnenlicht entgegenzurecken. Doch woher wissen die Pflanzen überhaupt, wo unten ist – selbst wenn sie umfallen oder abknicken?

Diese Frage stellte sich schon Charles Darwin. Der Naturforscher beobachtete, dass Wurzeln immer in Richtung der Schwerkraft wachsen, und dass sie das nicht mehr können, wenn man ihre Spitze abschneidet. Die Spitze, so seine Schlussfolgerung, muss also Sensoren enthalten, mit denen die Pflanze die Schwerkraft wahrnehmen kann. Auch heute noch, etwa 150 Jahre später, geben diese Sensoren und ihre Funktion Wissenschaftlern Rätsel auf, berichtet das Magazin „bild der wissenschaft“ in seiner März-Ausgabe – obwohl mittlerweile schon einige ihrer Geheimnisse bekannt sind.

So weiß man inzwischen, dass die Wurzelenden kleine Schweresteinchen, auch als Statolithen bezeichnet, enthalten – ähnlich wie die, die im Innenohr des Menschen den Gleichgewichtssinn regeln. Besonders gut sehen kann man solche Statolithen in den durchsichtigen Rhizoiden, den wurzelartigen Ausläufern, die manche Algen als Reaktion auf eine Verletzung oder anderen Stress bilden: Sie bestehen lediglich aus einer einzigen Zelle, die jedoch mehrere Zentimeter lang werden kann, und beherbergen in der Nähe ihrer unteren Spitze winzige, mit schwerem Bariumsulfat gefüllte Bläschen.

Solange diese Bläschen an ihrer Position bleiben, wachsen die Rhizoiden gleichmäßig nach unten. Das ändert sich jedoch sehr schnell, wenn man die Algen auf die Seite legt, wie der Gravitationsbiologe Markus Braun von der Universität Bonn beobachtet hat. Dann werden die Statolithen nämlich von der Schwerkraft in Richtung des jetzt nach unten zeigenden Teils der Zellmembran gezogen. Haltlos umherkullern können sie dabei jedoch nicht: Sie sind in feine Fäden aus dem Protein Aktin eingesponnen, das der Zelle eine innere Struktur gibt – vergleichbar mit einem Fachwerk, nur dass das Aktinskelett elastisch ist. „Die Statolithen werden unter Erdschwerkraft durch zwei entgegengesetzt gerichtete Kräfte im Gleichgewicht gehalten“, erklärt Braun. „Die Gravitation zieht sie nach unten und das Zellskelett wirkt dem entgegen“.

Was geschieht, sobald die Schweresteinchen die Zellhülle berühren, stellt sich Braun so vor: Die Statolithen kommen in Kontakt mit Sensormolekülen, die in die Zellmembran eingelassen sind, und schalten diese ein. Dadurch verändert sich in der direkten Umgebung der Kontaktstelle der Kalzium-Haushalt, was wiederum den Einbau von Zellwandmaterial und damit das Wachstum im unteren Membranbereich blockiert. Da der obere Teil der Zellhülle normal weiter wächst, beginnt sich die gesamte Zelle zu krümmen – und zwar nach unten, in Richtung der Schwerkraft.

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Gestützt wird diese Theorie von Experimenten während eines mehrtägigen Fluges im Space Shuttle und insgesamt über 300 Parabelflügen, die Braun und seine Pflanzen – unter anderem Exemplare der bereits getesteten Armleuchteralgen, aber auch der Ackerschmalwand, der Gartenkresse und von Reis – bereits hinter sich haben. Auf solchen Flügen herrscht für etwa 20 Sekunden Schwerelosigkeit im Flugzeug. Die Folgen dieser Ausflüge auf die Algen-Rhizoiden waren beachtlich, berichtet „bild der wissenschaft“: Sie wuchsen zwar weiter vor sich hin, da sich die Steinchen jedoch nicht auf einer Seite sammelten, verloren sie die Orientierung und streckten sich in alle möglichen Richtungen.

Und noch etwas verrieten die schwerelosen Flüge dem Gravitationsbiologen Braun: Nicht nur die einfachen Algen, sondern auch die höheren komplizierter aufgebauten Pflanzen nehmen die Schwerkraft dank Schweresteinchen und Kontaktsensoren wahr – allerdings nicht so schnell. „Das Sensor-Molekül, das durch die Verlagerung der Statolithen aktiviert wird, reagiert deutlich langsamer als in den Rhizoiden. Es wird auch langsamer wieder abgeschaltet, wenn der Reiz ausbleibt“, erklärt Braun. Außerdem benutzen die höheren Pflanzen wie die Ackerschmalwand Arabidopsis thaliana nicht Bariumsulfat zum Messen der Gravitation, sondern stärkehaltige Körnchen innerhalb der Zellen, so genannte Amyloplasten.

Wie die Pflanzen ihr Wachstum anpassen, wenn sie veränderte Schwerkraftverhältnisse wahrnehmen, wissen die Forscher allerdings noch nicht genau. Dazu müssen Braun und sein Team wohl noch häufiger in die Schwerelosigkeit. Sicher ist jedoch eins: Die sichtbaren Folgen dieser Anpassung können sehr beeindruckend sein, etwa bei Bäumen, deren Stämme von Sturm oder Schnee umgedrückt werden und die es trotzdem schaffen, ihre Kronen wieder in den Himmel zu recken – selbst wenn sie dazu sozusagen um die Ecke wachsen müssen.

ddp/wissenschaft.de – ===Rüdiger Vaas
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