Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Von wegen primitiv

Erde|Umwelt

Von wegen primitiv
Manche Schildkröten altern nicht. Andere können erstaunlich lang überleben, ohne nach Luft zu schnappen. Die neuen Erkenntnisse könnten bei der Therapie von Schlaganfall-Patienten helfen.

„Wussten Sie, dass der panzer einer Schildkröte aus Rippen und Wirbeln besteht?“, fragt Naoki Irie, Biologe am Riken Center for Developmental Biology im japanischen Kobe. Aber wenn das stimmt: Wo sind dann die Schulterblätter? „Die sind im Panzer, also innerhalb der Rippen.“ Irie ist fasziniert von Schildkröten, von ihrer Evolution und ihrer Embryonalentwicklung. Jetzt hat er einen großen Coup gelandet. Unter seiner Koordination hat ein internationales Team die komplette Erbinformation von zwei Schildkrötenarten entschlüsselt.

Die Ergebnisse räumen auf mit dem Vorurteil, Schildkröten seien primitive Reptilien, und sie liefern viel Material zum Weiterforschen. Denn Schildkröten können erstaunliche Dinge, die für Mediziner interessant sind. So altern einige Arten offenbar nicht, während andere erstaunlich lang ohne Sauerstoff überleben können – ohne Schaden zu nehmen!

Lange waren die Panzertiere die einzige große Wirbeltiergruppe, deren Genome niemand sequenziert hatte. Doch in diesem Jahr erschienen gleich zwei große Veröffentlichungen: Im März eine Arbeit aus den USA und Kanada mit dem Genom der Zierschildkröte Chrysemys picta im Fachblatt „Genome Biology“ und im April die Arbeiten des internationalen Teams um Irie mit den Erbinformationen der Chinesischen Weichschildkröte (Pelodiscus sinensis) sowie der Suppenschildkröte (Chelonia mydas) in „Nature Genetics“.

Zu Beginn haben WIR alle einen Schwanz

Seit dem Hype um die Sequenzierung des menschlichen Genoms im Jahr 2000 hat sich die Gen-Forschung rapide weiterentwickelt. Das Team um Irie, an dem neun Institute aus Japan, China und Großbritannien beteiligt waren, hat mit seinen Hochleistungs-Sequenzierautomaten nicht nur die Genome entschlüsselt. Die Forscher haben auch herausgefunden, welche Gene wann während der Embryonalentwicklung aktiv sind. Das Erstaunliche: Schildkröten haben zwar einen völlig anderen Körperbau als andere Wirbeltiere, aber während der ersten Tage im Ei spulen sie ein sehr ähnliches Gen- Programm ab wie wir Menschen.

Anzeige

Das passt zu anatomischen Beobachtungen: Zu Beginn ihrer Entwicklung sind sich die Embryonen von Fischen, Vögeln, Schildkröten und Menschen sehr ähnlich. Alle haben beispielsweise einen Schwanz. Außerdem sind markante Merkmale wie Schnäbel oder Panzer noch nicht ausgebildet. Erst später entstehen die typischen Kennzeichen der einzelnen Tiergruppen, fangen die Rippen der Schildkrötenembryonen an, breit zu werden und nach außen zu wachsen statt sich zu biegen. Dann verwachsen sie zu zwei festen Panzerhälften.

Die Evolution der Schildkröte gleicht ihrer Embryonalentwicklung. Ein internationales Team aus den USA und der Schweiz vermutet, dass sich die Schildkröte mit flachen, verwachsenen Rippen aus einem Vorfahr mit schmalen, gebogenen Rippen entwickelte. Die Forscher hatten ein etwa 260 Millionen Jahre altes Fossil untersucht, das der Urahn der Schildkröten gewesen sein könnte: Eunotosaurus africanus. Dieses etwa zehn Zentimeter große Tier hatte noch keinen festen Panzer, aber bereits verwachsene Rippen. Bislang kannten die Forscher nur eine etwa 220 Millionen Jahre alte Ur-Schildkröte, Odontochelys semitestacea. Diese hatte bereits einen festen Bauchpanzer, aber auf dem Rücken nur einen Schild und keinen vollständigen Panzer.

sauerstoffmangel ist kein problem

So ungewöhnlich der Körperbau der Schildkröte ist, ihr Genom unterscheidet sich kaum von dem anderer Wirbeltiere. Kleine, aber wesentlichen Unterschiede entdeckten die Forscher jedoch im „ Fine-Tuning“, also in der Steuerung der Gene. „Sie benutzen im Prinzip dieselbe Gen-Maschinerie wie wir“, sagt Bradley Shaffer, Biologe an der University of California in Los Angeles und Erstautor der US-Studie. „Sie verändern nur die Aktivität.“ So identifizierte sein Team 19 Gene im Gehirn und 23 im Herz, die die Zierschildkröte bei Sauerstoffmangel aktiviert. Das Gen APOLD1 etwa ist unter diesen Umständen 130 Mal so stark aktiv wie unter Normalbedingungen. Da Schildkröten Sauerstoffmangel lange Zeit ohne Probleme überstehen können, interessieren sich Infarkt- und Schlaganfallforscher sehr für die neuen Daten. Sie untersuchen die Erbinformation der Tiere nach bislang unbekannten Schutzfaktoren, die sich möglicherweise in Medikamenten für den Menschen nutzen lassen.

Überraschend ist auch der Reichtum an Genen, die mit dem Riechen zu tun haben. Man wusste zwar, dass sich Meeresschildkröten unter anderem mit dem Geruchssinn orientieren, aber die Forscher waren doch überrascht, als sie Gene für über 1000 verschiedene Geruchsrezeptoren im Genom der Chinesischen Weichschildkröte fanden. So feine Nasen waren bislang nur von manchen Säugetieren bekannt, zum Beispiel Hunden.

Alternsforscher sind fasziniert davon, wie erstaunlich alt Schildkröten werden können. So starb 2006 die möglicherweise 176 Jahre alte Riesenschildkröte Harriet in einem australischen Zoo an einem Herzinfarkt. Sie gehörte angeblich zu den Tieren, die Charles Darwin einst persönlich von den Galapagosinseln mitgebracht hatte. Harriet soll 1830 geboren worden sein. 2006 starb auch das Riesenschildkröten-Männchen Adwaita in einem indischen Zoo. Es heißt, das Tier hätte 256 Jahre lang gelebt.

Einige Arten scheinen überhaupt nicht zu altern, zum Beispiel die Amerikanische Sumpfschildkröte und eine Unterart der Zierschildkröte. „Ihre Organfunktionen werden mit den Jahren nicht schlechter. Alte Weibchen legen sogar mehr Eier als junge“, berichtet Justin Congdon, emeritierter Professor der University of Georgia (USA). „Wenn sie sterben, dann durch Angriffe von Raubtieren oder durch Infektionen. Manche werden leider auch von Autos überfahren.“ Die für Menschen und andere Säugetiere typischen Alterserkrankungen wie Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen gibt es bei alten Tieren nicht häufiger als bei jungen.

„Die neuen Erkenntnisse haben an der Vorstellung gekratzt, dass Altern unabwendbar ist“, sagt Caleb Finch, Alternsforscher an der University of Southern California in Los Angeles. Noch ist allerdings völlig unklar, warum die Jahre so spurlos an den Tieren vorbeigehen. Vielleicht liegt auch dieses Geheimnis in der Feinsteuerung ihres Genoms – und damit in den Daten der Gen-Forscher.

Seltsame Mundspülung

Die ungewöhnliche Physiologie von Schildkröten hatte schon im vergangenen Jahr das Interesse von Medizinern geweckt. Ein Forscherteam der National University of Singapore beschrieb, wie die Chinesische Weichschildkröte Pelodiscus sinensis mit dem Maul pinkelt. Bekannt war, dass diese Art in ihrer Mundschleimhaut kiemenartige Lamellen hat. Doch da es sich bei Pelodiscus sinensis um einen Lungenatmer handelt, war unklar, wozu sie diese Lamellen benötigt.

Weil sich die Weichschildkröten merkwürdig verhielten, kamen die Wissenschaftler schließlich auf die richtige Spur: Wenn die Tiere auf eine Pfütze trafen, hielten sie ihren Kopf oft über eine Stunde lang ins Wasser und pumpten es durchs Maul. Teamleiter Yuen K. Ip kam ein Verdacht. Er stellte den Tieren Wasser zum Maulspülen hin und hängte ihnen außerdem einen Sammelbehälter für Urin unter den Schwanz. Anschließend untersuchte er die Zusammensetzung beider Flüssigkeiten. Das Ergebnis: Im Spülwasser war deutlich mehr Harnstoff als im Urinsammler. Die Schildkröten hatten sehr viel mehr stickstoffhaltigen Abfall über das Maul ausgeschieden als über den Urin! 90 Prozent der gesamten Stickstoff-Entsorgung erfolgt bei den Tieren über das Maul, nur 10 Prozent über die Nieren.

Die Forscher untersuchten die Kiemen genauer und entdeckten, dass die Schildkröten Harnstoff im Speichel konzentrieren – und zwar 250 Mal so stark wie im Blut. Die Mundspülung dient offenbar dazu, den belasteten Speichel von den Oberflächen der „ Entsorgungskiemen“ abzuspülen. Aber warum benutzen die Weichschildkröten dafür nicht ihre Nieren wie andere Tiere? Das hat wahrscheinlich mit dem Lebensraum von Pelodiscus sinensis zu tun: Die Art bewohnt nicht nur Süßwasser, sondern auch salzhaltiges Brackwasser. Um Schadstoffe über die Nieren ausscheiden zu können, braucht ein Körper viel Wasser. Enthält dieses Salz, muss der Körper es loswerden. Manche Tiere, zum Beispiel Sturmvögel, haben dafür spezielle Organe. Die Chinesische Weichkröte hat das Durchspülen offenbar einfach nach außen verlagert. In Singapur untersuchen Ip und sein Team die Lamellen inzwischen genauer. Sie hoffen, auf Ideen zu kommen, wie sich zum Beispiel effektivere Dialyse-Geräte für Nierenkranke entwickeln lassen.

Auch die australische Süßwasserschildkröte Rheodytes leukops verfügt über kiemenartige Fortsätze – allerdings am hinteren Körperende. Ihr englischer Spitzname ist „bum breathing turtle“, übersetzt: „Schildkröte, die mit dem Hinterteil atmet“. In ihrer Kloake – dem gemeinsamen Ausgang von Darm, Harnleiter und Geschlechtsteilen – befinden sich zahlreiche winzige fingerartige Fortsätze, die eine ähnliche Funktion haben wie die Kiemen von Fischen. Über sie kann die Schildkröte Sauerstoff aus dem Wasser aufnehmen.

Bizarre „Bum-Breather“

Vergleichbare Konstruktionen findet man auch bei anderen Arten, aber bei Rheodytes leukops haben sie riesige Ausmaße. Wenn die Tiere im Wasser sind, öffnen sie die bis zu 30 Millimeter große Öffnung am Hinterteil und pumpen Wasser hindurch. Als die Biologen John Legler und John Cann dieses Phänomen beobachteten, schrieben sie fasziniert: „Wir entdeckten die riesigen Kloakentaschen, als wir ein Weibchen in hellem Sonnenlicht untersuchten. Der Panzer ließ genug Licht hindurch, um die Bauchhöhle zu beleuchten, und erlaubte uns einen spektakulären Blick über die Kloake bis mindestens 100 Millimeter tief ins Innere.“ Die gesamte Schildkröte wird übrigens nur 260 Millimeter lang.

Durch ihre ungewöhnliche Kiemenkonstruktion kann Rheodytes leukops fast komplett auf eine Lunge verzichten, weshalb die Tiere nur selten auftauchen müssen. Erstaunlich: Obwohl das „bum breathing“-Phänomen schon seit 1980 bekannt ist, haben sich medizinische Forscher bislang nicht weiter dafür interessiert. ■

Der Lübecker Wissenschaftsjournalist und bdw-Korrespondent THOMAS WILLKE liebt das Meer. Er ist begeisterter Segler. Einen Artikel über Schildkröten zu schreiben, war ihm eine Herzensangelegenheit.

von Thomas Willke

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

auskrat|zen  〈V.〉 I 〈V. t.; hat〉 1 durch Kratzen entfernen 2 〈Med.〉 = ausschaben ( … mehr

Exis|ten|ti|a|list  〈m. 16; Philos.〉 = Existenzialist

Ka|ta|bo|lie  〈f. 19; unz.; Biol.〉 = Katabolismus

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige