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Vorgetäuschter Gaumenschmaus

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Vorgetäuschter Gaumenschmaus
Es ist nicht nur Geschmacksache, ob uns eine Speise zusagt oder nicht. Die Nase hat ein Wörtchen mitzureden. Doch unsere Sinne gaukeln uns das Gegenteil vor.

Egal, ob wir kauen, schlucken oder gurgeln – Essen und Getränke schmecken wir an Zunge oder Gaumen. Zumindest empfinden wir das so. In Wirklichkeit tragen die Mundsinne aber nur sehr wenig zum Geschmackserlebnis bei. Mit ihnen können wir gerade mal fünf Geschmacksarten unterscheiden: süß, sauer, salzig, bitter und umami (japanisch für würzig oder fleischig). Zum größten Teil rührt unser Schmecken nämlich von den Essensdüften her, die in die Nase steigen. Die Macht des Geruchs bemerken wir erst, wenn ein Schnupfen den Riecher blockiert und selbst das Lieblingsessen wie Einheitsbrei schmeckt.

die zwei Enden der Nase

Erst 1982 hat der Psychologe Paul Rozin von der University of Pennsylvania die Wissenschaft auf diese Sinnestäuschung hingewiesen, die er „flavor-fusion-illusion” taufte, zu Deutsch etwa „Illusion des einheitlichen Geschmacks”. Ein Freund hatte ihm erzählt, dass er Limburger liebe – allerdings nur, wenn er den Stinkekäse nicht riechen müsse. Daraus schloss Rozin, dass es zwei Arten des Riechens geben muss.

Ebenso geht das delikate Odeur von frisch gemahlenem Kaffee verloren, wenn man das schwarze Gebräu im Mund kostet. Beim klassischen Riechen, das Rozin als „orthonasal” bezeichnete, ziehen wir die Luft durch die Nase ein. Wir riechen aber auch nach innen oder „retronasal” – also von der Mundhöhle über den Nasenrachenraum zur Nasenschleimhaut. Und erst durch das retronasale Riechen können wir die Aromastoffe in der Nahrung beurteilen.

Das Wundersame sei, so Rozin, dass wir den inneren Geruch gar nicht als solchen wahrnehmen. Wir interpretieren ihn fälschlich als Geschmack und projizieren seinen Entstehungsort in die Mundhöhle. Vielleicht deshalb haben die meisten Sprachen kein eigenes Wort für das „Riechen durch die Hintertür”, das am besten mit dem englischen Wort „flavor” beschrieben ist. Das ist besonders interessant, weil fast alle Nahrungsmittel von innen ganz anders riechen als von außen. So erkannten Rozins Probanden exotische Fruchtsäfte nicht wieder, wenn sie diese allein retronasal identifizieren sollten, ohne sie sehen oder daran schnüffeln zu können.

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Die Illusion der Geschmacksverschmelzung hat viel mit der Wahrnehmungstäuschung bei Bauchrednern gemeinsam. Die entsteht, weil wir die Stimme des Bauchredners auf dessen Puppe projizieren. Der Psychologe Richard J. Stevenson von der Macquarie University in Sydney zieht diesen Vergleich in der jüngsten Online-Ausgabe des „Psychological Bulletin” vom Juli 2013. Darin zerlegt er die Sinnestäuschung in ihre Einzelteile. Ihm zufolge geht die Illusion noch viel weiter, als Rozin sie beschrieb: Wir nehmen beim Essen zwar einen Geschmack wahr, der aus einem Guss zu sein scheint. Aber tatsächlich werden nur unsere Geschmackszellen im Mund dauerhaft von Geschmacksstoffen umspült, während uns die Essensdüfte schubartig in die Nase steigen.

Erst schlucken, dann riechen

Nimmt man Kaffee oder Wein in den Mund, ohne zu schlucken, registrieren unsere Sinne lediglich den Geschmack des Getränks (sauer oder bitter), nicht aber die typischen Aromanoten. Dafür sorgt das Gaumensegel: Der Fortsatz im Rachenraum verschließt am Zungengrund den Weg in die Luftröhre, damit nicht schon beim Kauen Teile der Speise in den Nasenrachenraum gedrückt werden oder in die Luftröhre rutschen. Beim Schlucken setzt das Gaumensegel dann in Gegenrichtung an der Rachenwand an (siehe Grafik auf S. 81). Daher entfaltet sich erst unmittelbar nach dem Schluckvorgang – mit dem folgenden Atemstoß – die vollständige Geschmacksempfindung. Wir bekommen gar nicht mit, dass unsere Nase nur hin und wieder mit Essensdüften in Kontakt kommt. Denn unsere Wahrnehmung gaukelt uns einen dauerhaften Geschmack vor.

Laut Stevens hat das einen guten Grund: Wir können nicht von innen an unserer Nahrung schnüffeln. Wollen wir die Quelle eines Geruchs identifizieren, schnuppern wir rhythmisch daran, um so die Geruchssensoren maximal zu stimulieren. Doch beim Verzehr von Speisen geht es nicht mehr darum, sie zu bestimmen, sondern um das Stillen von Essgelüsten. Das Gehirn übersetzt dabei den detaillierten Laborbericht von Mund und Nase in eine einheitliche Gesamtbewertung: „Wenn es sich gut anfühlt, iss weiter!”

Wer etwa Pommes liebt, erkennt sie am Geruch. Aber erst beim Verzehr befriedigt die retronasale Wahrnehmung das Verlangen danach. Dazu ist es nicht nötig, die nasale Komponente dieser Impression zu orten. Unmöglich ist es aber nicht. Sommeliers zum Beispiel schnuppern nach innen. Durch gekonntes Öffnen und Schließen des Mundes beziehungsweise der Gaumensperre, gepaart mit einer wirksamen Atemtechnik – die meist mit sonderbaren Gurgelgeräuschen einhergeht – pumpen sie die Aromastoffe aus dem Mund in den Nasenrachenraum.

Der Retronasalsinn entfacht die kulinarische Lustempfindung, wie die Biologin Dana Small von der Yale University in New Haven zeigte. Sie führte Probanden Schokoladengeruch mit dünnen Röhrchen in die Nase ein – entweder am vorderen Eingang der Nase oder von innen über den Rachen. Strömte der Duft orthonasal ein, so wurden die klassischen Gehirnregionen aktiv, die der Identifikation von Gerüchen dienen. Nahm der Schokoladenduft die retronasale Route, stimulierte dies Areale, die die lustvolle Befriedigung eines Triebs signalisieren. Der Mensch ist vermutlich der einzige, mit Sicherheit aber der größte Lustesser in der Fauna. Denn der Nasenrachenraum ist nur bei uns zu einem voluminösen Schlot erweitert, während Tiere mit einer langen, engen Röhre auskommen müssen.

Die Ausdehnung dieses Nasopharynx ist keine anatomische Spielerei, sondern eine besondere biologische Adaption, erklärt der Neurobiologe Gordon M. Shepherd von der Yale School of Medicine. Die Evolution habe uns mit einem mächtigen Sensorium ausgestattet, um ein großes Repertoire an Geschmacksempfindungen auskosten zu können, dem nichts im Tierreich nahekomme. Ein Hund findet mit seiner feinen Supernase zwar viel schneller den Weg zum Metzger, aber das Würstchen mundet ihm nicht halb so gut.

Warum unsere Sinne einen Happen als Leckerbissen goutieren oder uns bereits der Gedanke an gewisse Speisen den Magen umdreht, ist kaum geklärt. Bei der Vorstellung gegrillter Insekten – in afrikanischen Kulturen ein Standardgericht – überkommt viele Europäer Übelkeit, während man Japaner mit dem Bukett von Schimmelkäse jagen kann. Sie verzehren dagegen schon zum Frühstück „Natto” – schleimige vergorene Sojabohnen, deren Geruch bei vielen Bewohnern westlicher Länder Brechreiz auslöst.

Geschmack Entwickelt sich im Mutterleib

Ohne Zweifel färben die umgebende Kultur und das Elternhaus auf unsere Gelüste ab. Sogar Erfahrungen im Mutterleib können einen Grundstock für spätere Vorlieben bilden, wie ein Team um Julie Mennella vom Monell Chemical Senses Center in Philadelphia nachgewiesen hat. Frauen, die während der Schwangerschaft regelmäßig Karottensaft tranken, brachten Kinder zur Welt, die gern Mohrrüben aßen. Im Babyalter setzt sich die Prägung fort. Bei einem Versuch der Münchner Gesellschaft für sensorische Analyse und Produktentwicklung wurden den Teilnehmern zwei fast identische Sorten Ketchup vorgesetzt. Der einzige Unterschied: Die eine Probe war mit Vanillin angereichert, einem Aromastoff, der früher oft in Milchpulver für Babys steckte und auch heute noch vereinzelt zu finden ist. Ergebnis: Die ehemaligen Flaschenkinder bevorzugten viermal so häufig den Vanillin-Ketchup wie die Stillkinder, die diese Geschmacksnote nicht kannten.

Bis zu einem gewissen Grad werden Nahrungsgewohnheiten auch durch Erbfaktoren festgelegt. Viele Menschen haben regelrecht „ blinde Flecken” für bestimmte Geschmacksnoten. So fehlt einem Viertel der Bevölkerung in Europa und den USA das Wahrnehmungsvermögen für die bittere Testsubstanz Phenylthiocarbamid. Weitere 25 Prozent sind „Feinschmecker”, die das Molekül bereits bei geringer Dosierung wittern. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum einige Menschen manche Gemüsesorten wegen der Bitterstoffe ablehnen. Andere wiederum bevorzugen bestimmte Nahrungsmittel, weil diese dominante Seiten ihrer Persönlichkeit ansprechen. „Thrill-Sucher” , Menschen mit ungenügender Erregung im Nervensystem, benötigen ständig starke Reize, viel Abwechslung und Erlebnisse am laufenden Band. Kein Wunder, dass diese Liebhaber des Nervenkitzels harte und knusprige sowie würzige, saure oder scharfe Nahrung sehr schätzen.

Eduardo Moraes, Aromaforscher bei Givaudan in Dübendorf bei Zürich, dem weltweit größten Hersteller von Geschmacksstoffen, hat eine Landkarte mit den Geschmacksvorlieben fremder Länder entworfen – einen „Atlas der Weltaromen”, wie er ihn nennt. Sein Fazit: Im Süden mag man es süßer als im Norden. Maßstab ist der Geschmack von Butter: In nördlichen Ländern wie Schweden wird sie gesalzen, in Deutschland mild gesäuert, und ab dem nördlichen Wendekreis ist sie oft eingesotten – etwa das für Europäer ranzig schmeckende Butterschmalz aus Indien.

Wenn nach einer Mahlzeit Übelkeit auftritt, bleibt häufig eine lebenslange Abscheu gegen die auslösende Speise zurück. Diese Konditionierung machte der US-Psychologe Martin Seligman berühmt. Seine Leidenschaft für Sauce Béarnaise hatte sich in bleibenden Ekel verwandelt, als er kurz nach einem Schmaus an Grippe erkrankt war. Tieren geht es genauso: Wölfe, denen man vergiftetes Schafsfleisch verfüttert hatte, flohen fortan vor ihrer Lieblingsbeute. Einige unterwarfen sich den Wolltieren sogar in jämmerlicher Demutshaltung. ■

ROLF DEGEN schmeckt so ziemlich alles – bis auf die in China so beliebten tausendjährigen Eier. Dort eine Delikatesse, wird einem Europäer oft schon beim Anblick der grün vergorenen Enteneier schlecht.

von Rolf Degen

Kompakt

· Das Schmecken besteht aus mehreren Sinneseindrücken.

· Der Mundraum erkennt Geschmacksnoten wie bitter oder salzig. Weitere Aromen riechen wir mit der inneren Nase.

· Wir schnuppern an Lebensmitteln, um sie zu bestimmen. Beim Riechen im Nasenrachenraum geht es dagegen um das Stillen von Essgelüsten.

Mehr zum Thema

Lesen

Wie die Welt der Düfte und Gerüche unser Leben bestimmt: Hanns Hatt, Regine Dee Das kleine Buch vom Riechen und Schmecken Knaus, München 2012, € 14,99

Wie uns das Gehirn beim Schmecken täuscht: Gordon M. Shepherd Neurogastronomy How the Brain Creates Flavor and Why It Matters Columbia University Press, New York 2011, € 18,95

„Riechen fehlt mir nicht”

Schmecken Sie Unterschiede, abgesehen von süß, salzig, sauer, bitter und „umami”?

Wahrscheinlich nicht, aber ich kann das nur schwer beantworten. Ich habe schließlich keinen Vergleich. Aber zum Beispiel bei parfümierten Teesorten schmecke ich keine Unterschiede.

Genießen Sie das Essen?

Definitiv! Es gibt auch Sachen, die ich mag und die ich nicht mag. Und das hängt nicht nur von der Konsistenz ab, sondern auch vom Geschmack. Ich mag zum Beispiel Essen, das mit Currypulver gewürzt ist. Bei anderen Zutaten, Knoblauch oder Basilikum etwa, bin ich nicht sicher, ob ich einen Unterschied schmecke. Zur Chefköchin würde ich mich sicher nicht eignen.

Achten Sie verstärkt auf die Konsistenz von Nahrungsmitteln?

Das kann sein. Joghurt oder Pudding mag ich zum Beispiel nicht besonders gerne, Mousse au Chocolat dagegen schon. Die hat eine andere Konsistenz – aber auch einen anderen Geschmack.

Würden Sie Ihren Geruchssinn herstellen lassen, wenn das möglich wäre?

Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Gesprochen wird meist über unangenehme Gerüche, beispielsweise Schweißgeruch in der vollen Bahn im Sommer. In manchen Situationen wäre es aber praktisch, riechen zu können, etwa um festzustellen, ob Lebensmittel verdorben sind oder ob ich einen Pullover noch einmal tragen kann. Doch weil ich noch nie riechen konnte, fehlt es mir nicht.

Beißen, kauen, schlucken

Wenn wir schlucken, verschließt das Gaumensegel den Nasenrachenraum, und der Kehldeckel blockiert die Luftröhre (1). Erst danach riechen wir retronasal (2).

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Po|ly|em|bryo|nie  auch:  Po|ly|emb|ryo|nie  〈f. 19; unz.; Biol.〉 vegetative Vermehrung während der Embryonalentwicklung bei Tieren … mehr

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