Im Prinzip lernen alle jungen Säugetiere inklusive des Menschen das Laufen zur gleichen Zeit ? dann nämlich, wenn ihr Gehirn einen bestimmten Entwicklungszustand erreicht hat. Je größer das Gehirn eines Tieres dabei wird, desto länger braucht es zum Wachsen und desto später erreicht es den funktionellen Zustand, der zum Gehenlernen notwendig ist. Das ist das Ergebnis einer Studie schwedischer Forscher, die untersucht haben, wann Tiere ihre ersten Schritte tun. Neben der Gehirnentwicklung gab es nur noch einen einzigen anderen Faktor, der dafür entscheidend ist, zeigten die Ergebnisse: die Form und Funktion der Gliedmaßen. Diese spielt allerdings eine weitaus geringere Rolle als das Gehirn, schreiben die Wissenschaftler.
Kleine Huftiere schaffen schon wenige Stunden nach ihrer Geburt ihre ersten Schritte, Nagetiere brauchen Tage oder Wochen, Primaten lernen erst nach Monaten das Laufen und der Mensch beherrscht schließlich erst nach gut einem Jahr das Gehen. Dennoch scheint es eine gemeinsame Regel zu geben, die bestimmt, wann dieses wichtige Ereignis im Leben eines Tieres stattfindet, schließen Martin Garwicz von der Universität in Lund und seine Kollegen aus ihrer Studie. Darin hatten sie bei insgesamt 24 Säugetierarten ? darunter Erdferkel, Elefanten, Mäuse, Hunde, Katzen, Pferde, Schafe, Flusspferde, Igel, einige Menschenaffen und auch der Mensch selbst ? verschiedene Merkmale verglichen: die Tragezeit, die Gehirnmasse der Neugeboren, den Reifegrad des Gehirns bei der Geburt, die endgültige Gehirnmasse, die Biomechanik der Gliedmaßen und die Frage, ob die Tiere nach der Geburt sehr schnell selbstständig werden oder ob sie lange von ihren Eltern abhängig sind.
Nach diversen statistischen Auswertungen blieben noch zwei Faktoren übrig, die zusammengenommen ziemlich exakt theoretisch vorhersagen können, wann ein Tier das Laufen lernt: die Gliedmaßenanatomie, die etwa vier Prozent beiträgt, und die endgültige Gehirnmasse des erwachsenen Tieres, die beachtliche 94 Prozent beisteuert. Dieser auf den ersten Blick nicht wirklich logische Zusammenhang lasse sich wie folgt erklären, schreiben die Forscher: Da das Wachstum und die Reifung von Nervenzellen bei allen Säugetieren praktisch gleich ist, ist die endgültige Gehirngröße ein Maß für die Entwicklungszeit des Gehirns. Wenn sich dieser Faktor bei allen untersuchten Tieren inklusive des Menschen als derartig entscheidend herausstellt, muss es einen bestimmten Zeitpunkt während der Gehirnentwicklung geben, an dem die ersten Schritte möglich sind ? und dieser Zeitpunkt ist vermutlich dann gegeben, wenn ein für koordinierte Bewegungen zuständiges Areal oder Netzwerk im Gehirn ausgereift ist.
Besonders interessant sei, dass sich der Mensch darin nicht von anderen Tieren unterscheide, so die Forscher. Er galt bisher als Sonderfall, weil er den aufrechten Gang nutzt, sein Kopf im Verhältnis zum Körper sehr groß ist und sein Gehirn nach der Geburt einen rasanten Entwicklungsschub durchmacht.
Martin Garwicz (Universität in Lund) et al.: PNAS, doi: 10.1073/pnas.0905777106 ddp/wissenschaft.de ? Ilka Lehnen-Beyel