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WIE DIE NATUR DAS ÖL VERDAUT

Erde|Umwelt

WIE DIE NATUR DAS ÖL VERDAUT
Nach der Explosion der Ölplattform „ Deepwater Horizon” im Golf von Mexiko kam es zu einer Verschmutzung bisher ungekannten Ausmaßes im tiefen Meer. Wie werden die Lebewesen mit der Belastung fertig?

Vor einem Jahr explodierte die Ölplattform „Deepwater Horizon” im Golf von Mexiko. Über 700 000 Tonnen Rohöl drangen ins Meer. Es dauerte drei Monate, bis der Ölausstrom mit einem temporären Verschluss gestoppt war. Doch schon wenige Wochen danach sah man kaum noch etwas vom Öl. Von BP und US-Behörden wurden Meldungen an die Presse lanciert, das Öl sei weg und die ökologische Katastrophe ausgeblieben. Sind die Selbstheilungskräfte der Natur wirklich so groß?

Das Paradebeispiel für diese Selbstheilungskräfte ist die Ölpest in der Bretagne von 1978. Der US-amerikanische Ölfrachter Amoco Cadiz war auf dem Weg nach Rotterdam, als am 16. März bei Starkwind die Ruderanlage ausfiel. Steuerlos lief das Schiff an der bretonischen Küste auf, brach auseinander und entließ über 200 000 Tonnen Rohöl ins Meer. Ein Ölteppich von der Größe des Saarlands bildete sich und verschmutzte 350 Kilometer der französischen Küste. Es war damals das bis zu diesem Zeitpunkt größte Ölunglück. Über 20 000 tote Seevögel wurden geborgen, Millionen von Muscheln, Seeigeln und anderen Meeresbodenbewohner starben. Fischbestände und Austernbänke wurden zerstört. Aber dann geschah das Unerwartete. Schon einige Monate nach dem Unglück gab es erste Anzeichen von Erholung: Das Öl verschwand, die ersten Tiere und Pflanzen kamen zurück. Heute ist die bretonische Küste wieder ein weitgehend ölfreier Lebensraum. An geschützten Plätzen gibt es zwar noch verkrustete Asphaltschichten, aber wer mit dem Spaten in den Strand sticht, findet nur Sand und kein Öl.

Selbstheilung in der Bretagne

An dieser Heilung war der Mensch völlig unbeteiligt. Im Gegenteil: Wo man belastetes Erdreich mit dem Bagger abgetragen hatte, kehrte das Leben sehr viel langsamer zurück. In der Bretagne wirkten die Selbstheilungskräfte der Natur – weil sie optimale Bedingungen vorfanden. Der Atlantik ist dort sauerstoffreich und relativ warm. Beides beschleunigt biologische Abbauprozesse. Was aber genauso wichtig ist: Das Meer bewegt sich dort gewaltig. Tidenhübe von etwa zehn Metern ziehen mit der Ebbe große verschmutzte Wassermassen aus den Buchten und drücken bei Flut sauberes Wasser hinein. Dazu kommen viele Stürme, häufig in Orkanstärke. Die Wellen lagern permanent Steine und Sand um. Die Folge: Das Öl versickerte kaum in tiefere Schichten, sondern wurde hinaus aufs Meer transportiert.

Unter diesen Bedingungen wird Erdöl tatsächlich biologisch effektiv abgebaut. Antje Boetius, Professorin am Alfred-Wegener- Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven, ist diesem Phänomen auf der Spur: „Es gibt mit Sicherheit einige Hundert Arten erdölabbauender Bakterien, in Süßwasser, in Salzwasser – sogar in sauberen Gewässern, dort allerdings nur in sehr geringen Konzentrationen.” Die Mikroorganismen verfügen über spezielle Enzyme, mit denen sie die Kohlenwasserstoffe des mineralischen Öls in leicht verdaubare Fettsäuren umwandeln. Für alle Lebewesen, die diese Spezialenzyme nicht haben, ist Erdöl völlig unbekömmlich oder sogar giftig. Dazu kommt: Die Bakterien sind keine Öl-Allesfresser. „Für jede Komponente des Öls sind andere Bakterien zuständig”, sagt Boetius. Kurze Kohlenwasserstoffketten wie das Propan bauen die Mikroorganismen in wenigen Tagen vollständig ab. Längere Ketten brauchen mehr Zeit, und bei komplexen Molekülen mit Doppelbindungen oder Ringstrukturen kann es Monate oder Jahre dauern. Um ihre Arbeit zu erledigen, benötigen die Bakterien neben reichlich Sauerstoff auch diverse Mineralien: vor allem Stickstoffsalze, Phosphat und Eisen. Ohne diese Chemikalien können sie das Öl nicht verdauen – und im Meer ist die Konzentration dieser „Betriebsstoffe” niedrig. Das setzt dem Stoffwechsel der Bakterien Grenzen, und deshalb dauert es sogar unter günstigen Bedingungen wie in der Bretagne Monate oder gar Jahre, bis das Öl vollständig abgebaut ist.

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DER TOD DER TANGWÄLDER

Ganz anders als in der Bretagne ist die Situation im Prinz-William-Sund in Süd-Alaska. Am 24. März 1989 lief hier der Öltanker Exxon Valdez auf ein Riff. Etwa 40 000 Tonnen Rohöl liefen aus und verseuchten 2000 Kilometer Küste. Die Folgen waren katastrophal: Mehrere Hunderttausend Meeresvögel starben unmittelbar nach dem Unglück, mit ihnen ungezählte Fische, Krebse, Muscheln, Pflanzen sowie Wale und Otter (siehe bild der wissenschaft 4/2011, „Leben und Sterben im Orca-Clan”). Manche Schäden zeigten sich erst mit der Zeit: So brachen die Heringsbestände mit einigen Jahren Verspätung zusammen. Sie haben sich bis heute nicht erholt. Lebenswichtig für das Ökosystem der Südküste von Alaska sind die großen Tang-Wälder im Meer. Sie bieten Lebensraum für viele Tiere. Der Tang starb durch das Öl weitflächig ab und kehrte nur an manchen Stellen zurück. Andere Lebewesen, etwa spezielle Algen und Seepocken, kamen mit dem verseuchten Lebensraum besser zurecht, nutzten ihre Chance und besiedelten den verlassenen Meeresgrund. Als der Tang sich langsam erholte, war sein angestammter Lebensraum bereits besetzt.

Trotzdem gibt es laut Exxon über 350 wissenschaftliche Veröffentlichungen, die belegen, dass die Natur im Prinz-William-Sund über 20 Jahre nach der Ölverseuchung wieder sauber ist. „Das können wir so nicht unterschreiben”, sagt Hauke Harms, Professor am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ in Leipzig. Er hat die Situation vor Ort untersucht. „Oberflächlich ist das Öl zwar weg, aber wenn man gräbt, findet man es noch.”

Der Biologe Jeffrey Short vom Staatlichen Fischereidienst der USA entdeckte 2006 an 14 von 32 Stränden Öl. Es lag in der Gezeitenzone so dicht unter dem Meeresboden, dass Tiere wie Otter beim Graben nach Muscheln zwangsläufig mit den Ölrückständen in Kontakt kommen. Hauke Harms untersuchte mit einem internationalen Team, ob die Ölrückstände noch immer giftige Stoffe in die Umwelt entlassen. Mit neu entwickelten Tests wiesen die Forscher die Giftwirkung polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe (PAKs) in den Rückständen nach. Sie könnten ein Grund für die ökologischen Langzeitschäden im Prinz-William-Sund sein. Im Wasser treibende PAK-Teilchen können schon bei einer Konzentration von eins zu einer Milliarde Lachs- und Heringseier schädigen, wie Laborversuche zeigen. Untersuchungen des US-Folgenforschungsprogramms „Natural Resource Damage Assessment” ergaben, dass wahrscheinlich über 50 Prozent der Heringslarven im Prinz-William-Sund durch den Exxon-Valdez-Unfall vernichtet wurden. Es gibt allerdings auch hierzu eine Exxon-Studie, die nicht zu diesem Schluss kommt.

KALTES WASSER, SANFTER SEEGANG

Dabei liegt es auf der Hand, dass die Prozesse in Alaska mehr Zeit brauchen als in der Bretagne:

• Das Wasser in Alaska ist sehr kalt. Biologische Abbauprozesse laufen in der Kälte nur sehr langsam ab.

• Der Prinz-William-Sund ist, seemännisch gesehen, ein sehr gut geschütztes Gewässer. Ebbe und Flut spielen keine große Rolle, Seegang und Brandung sind viel sanfter als in der Bretagne. Das Meer konnte somit viel weniger Öl von den Stränden entfernen.

Ähnlich ist die Situation im Persischen Golf. Saddam Hussein hatte 1991 im ersten Golfkrieg kuwaitische Ölanlagen in Brand gesetzt und über eine Million Tonnen Erdöl in den Golf fließen lassen. Es war die größte Ölkatastrophe aller Zeiten. Unzählige Tiere starben, Salzwiesen und Mangroven wurden vernichtet. Doch das Meer erholte sich in wenigen Jahren erstaunlich gut von den Schäden, wie mehrere Forscherteams unter anderem der Unesco und des Forschungsinstituts Senckenberg in Frankfurt am Main feststellten. Der Persische Golf ist ein sehr warmes Gewässer. Mikroben können hier schnell arbeiten. Aber der Golf ist auch ein geschütztes Gewässer mit wenig Seegang. Dementsprechend sieht es heute an der Küste aus. Die Salzwiesen und Mangrovenwälder haben sich nicht erholt. Auch unter den Stränden und unter dem Meeresboden in der Gezeitenzone liegen immer noch große Ölmengen.

Öl UNTER DER WIESE

Der Meereschemiker Chris Reddy von der Woods Hole Oceanographic Institution (WHOI) in Massachusetts ist Experte für die Langzeitschäden durch Ölunfälle. Er hat seinen Spaten schon in viele Unglücksorte gestochen und Erschreckendes gefunden, obwohl die Katastrophen teils schon Jahrzehnte zurücklagen und die Oberfläche inzwischen wieder gesund aussah. So fand er bei West Falmouth in Massachusetts, USA, Rückstände über 30 Jahre nach einem Ölunfall, bei dem nur 600 Tonnen Diesel ausgelaufen waren – ein relativ gut abbaubares Ölgemisch. Die oberen Zentimeter der Salzwiesen waren sauber. „Aber zwischen 6 und 28 Zentimeter Tiefe entdeckten wir Öl in fast der gleichen Konzentration und Zusammensetzung wie unmittelbar nach dem Unglück”, sagt Reddy. In den Salzmarschen laufen biologische Prozesse nur langsam ab, und als Reddys Team die Ölrückstände analysierte, stellten die Forscher fest, dass die Arbeit der Bakterien zum Stillstand gekommen war: „Die Bakterien haben am Anfang einige leicht verdauliche Stoffe abgebaut, und seitdem passiert nichts mehr. Möglicherweise bleibt dieses Öl für immer hier.” Da Diesel für Tiere giftig ist, können auch die für die ökologische Funktion der Salzwiesen wichtigen Winkerkrabben nichts ausrichten. Normalerweise graben sie sich Löcher in den Wiesen, lockern so das Erdreich und machen es für andere Lebewesen zugänglich. Nicht so in West Falmouth: In den verseuchten Gegenden fanden die Forscher entweder keine Krabben, oder die Tiere bewegten sich langsamer als normal und schienen vergiftet zu sein.

Hier gibt es keine Rettung. „Der einzige Weg wäre, das Erdreich zu entfernen, aber damit würde man zugleich das ganze Biotop zerstören”, sagt der Meeresbiologe Héctor Guzmán vom Smithsonian Tropical Research Institute (STRI) in Panama. Das STRI besitzt sehr viel Erfahrung in der Folgenabschätzung von Ölschäden, seit ihm 1986 quasi vor der Haustür ein geborstener Vorratstank einer Raffinerie eine 8000-Tonnen-Ölpest bescherte. Das Öl verseuchte das gesamte Untersuchungsgebiet. Seither studieren die Forscher die mühselige Selbstheilung. Die Mangrovensümpfe haben sich trotz der tropischen Wärme bis heute nicht regeneriert. Auch die Korallenbestände litten lange unter den Folgen der Ölpest. Wahrscheinlich wurde immer wieder Öl aus den toten Mangroven herausgespült. Außerdem konnten die zerstörten Wälder den Sumpfboden nicht mehr halten. Er wurde in den Jahren nach der Ölpest hinaus auf die empfindlichen Nesseltiere der Korallenbänke gespült.

Wie lassen sich diese Erkenntnisse auf die Ölpest im Golf von Mexiko anwenden? Dort traten über 700 000 Tonnen Rohöl aus, das ist fast 20 Mal so viel wie beim Untergang der Exxon Valdez. Es war die zweitgrößte Ölkatastrophe auf der Welt, doch die kurzfristigen und offensichtlichen Schäden waren vergleichsweise gering. Nur knapp 7000 verölte tote Vögel, Schildkröten und Delfine wurden gefunden, und etwa 500 Kilometer Küstenlinie mit Stränden und Salzmarschen waren verseucht.

Welchen Schaden wird das Öl langfristig anrichten? Wenn man den Meldungen der US-Behörden und von BP Glauben schenkt, dann ist das ausgetretene Öl inzwischen verschwunden, und es droht keine langfristige Gefahr. Jegliches Öl sei entweder verbrannt, aufgefangen, verdunstet oder von Bakterien abgebaut, heißt es.

Unabhängige Forscher wie Antje Boetius haben jedoch große Zweifel an dieser Darstellung. Fest steht: Das Öl ist tatsächlich von der Oberfläche verschwunden, und die Strände sehen wieder sauber aus. Außerdem war der Golf von Mexiko mikrobiologisch bestens auf eine solche Katastrophe vorbereitet. Denn hier gibt es eine ständige „natürliche Ölpest”: Aus dem Meeresboden tritt an vielen Stellen Erdöl aus unterirdischen Lagerstätten aus. Bremer Forscher entdeckten 2003 in 3000 Meter Tiefe sogar „ Asphaltvulkane”. Dieser natürliche Asphalt ähnelt chemisch sehr zähem Erdöl. Das Leben im Golf hat sich an diese Belastung angepasst: Rund um die Ölquellen leben ölabbauende Bakterien aller Arten, und auf dem Asphalt siedeln Würmer und Krebse.

„ES WIRD JAHRHUNDERTE DAUERN”

Außerdem ist der Golf von Mexiko ein warmes und bewegtes, allerdings auch ein sauerstoffarmes Gewässer. Der Golf ist so verschmutzt, dass manche Regionen schon vor dem Deepwater-Horizon-Unglück ökologisch umzukippen drohten. Einige Gebiete sind sogar Todeszonen, in denen keine Fische und kein Plankton mehr existieren, sondern nur wenige besonders angepasste Mikroorganismen überlebt haben. „Allein die begrenzte Menge an Sauerstoff macht es unmöglich, dass das ausgetretene Öl durch Bakterien vollständig vernichtet wurde”, sagt Boetius. „Das Öl wird zwar abgebaut, aber nicht in der Zeitskala, die wir Menschen uns wünschen. Bis alles sauber ist, wird es Jahrhunderte dauern.”

Ein Team um den Ingenieur Richard Camilli von der Woods Hole Oceanographic Institution (WHOI) in Massachusetts entdeckte schließlich, wo das Öl geblieben war: in der Tiefsee. In etwa 1100 Meter Tiefe fanden die Forscher eine riesige, aus fein verteiltem Öl bestehende Wolke, mindestens 35 Kilometer lang, 2 Kilometer breit und 200 Meter hoch. Möglicherweise ist die Wolke unmittelbar nach dem Austritt aus dem Bohrloch der Deepwater Horizon entstanden. Zusammen mit dem Öl strömten gewaltige Mengen Methan aus. Ungefähr 25 bis 40 Prozent der ausgetretenen Masse bestand aus diesem leicht brennbaren Erdgas. „Normalerweise steigt ein Öl-Gas-Gemisch aufgrund seiner geringeren Dichte in wenigen Tagen zur Wasseroberfläche auf”, sagt Boetius. „Doch je kleiner die sich bildenden Öltropfen sind, desto langsamer vollzieht sich der Aufstieg. An der Deepwater-Horizon-Unfallstelle wurde der größte Teil des Öl-Gas-Gemisches wie bei einem Salatölzerstäuber durch ein dünnes Rohr unter hohem Druck in Form feinster Tröpfchen – weniger als ein Millimeter groß – ausgestoßen. Diese winzigen Ölteilchen hatten kaum Auftrieb und verteilten sich deshalb horizontal im Wasser.”

Schon kurz nach Entdeckung der Wolke verkündete der Mikrobiologe Terry Hazen vom Lawrence Berkeley National Laboratory des US-Energieministeriums im August 2010 im Fachblatt Science, dass sie schon bald verschwunden sein werde: Sein Team hatte Stichproben der Ölwolke untersucht und war zu dem Schluss gekommen, dass das Öl ungewöhnlich schnell abgebaut wird und dabei so wenig Sauerstoff verbraucht, dass kein Sauerstoffmangel entstehen wird.

FEHLER IM ZAHLENWERK

Der Biogeochemiker David Valentine von der University of California in Santa Barbara bezweifelt zwar nicht, dass Bakterien die Wolke schwinden lassen. „Aber in der Berechnung der Abbaugeschwindigkeiten sind Fehler. Ich glaube, man hat die Verdünnungsgeschwindigkeit gemessen und sie mit der Abbaugeschwindigkeit verwechselt.” Auch Antje Boetius hat ihre Zweifel: „Es ist nicht klar, was schneller ist: der bakterielle Abbau oder die Verdünnung durch Tiefsee-Meeresströmungen. Fest steht, dass das Öl immer noch da ist – und damit ist die Arbeit von Hazen widerlegt.”

Wo ein anderer Teil des Öls geblieben ist, beobachteten Wissenschaftler um die Meeresforscherin Samantha Joye von der University of Georgia: auf dem Meeresboden in 1500 Meter Tiefe. Sie fanden dort Ablagerungen sowohl von abgesunkenen schweren Ölbestandteilen als auch Reste von Öl, das an der Oberfläche verbrannt war. Teile der Ölrückstände entdeckten die Forscher auf Tiefseekorallen. Ein weiteres Wissenschaftler-Team beobachtete mit dem ferngesteuerten U-Boot „Jason” weiträumige Zerstörungen an diesen Korallen, wie man sie sie nie zuvor gesehen hat. Welche langfristigen ökologischen Konsequenzen das Deepwater-Horizon-Debakel haben wird, ist noch völlig unklar. Auch weil es kaum vergleichbare Unglücke gibt:

• Es war die zweitgrößte Ölkatastrophe weltweit.

• Noch nie ist in so großer Meerestiefe so viel Öl ausgetreten.

• Noch nie wurden so große Mengen Öllöser auf und unter Wasser ausgebracht (siehe Kasten „Corexit”). Auch dieses Detergens trägt dazu bei, dass das Öl von der Oberfläche in die Tiefen des Meeres verschwindet beziehungsweise dort bleibt.

Über das Leben in der Tiefsee wissen die Forscher noch so gut wie nichts. Erst seit einigen Jahren ist bekannt, dass es dort eine komplexe Lebenswelt mit Korallen und Fischen gibt. Aber die ökologischen Zusammenhänge sind unklar. Entsprechend schwierig ist es, Schäden durch die Ölpest zu erkennen und zu beurteilen. Die oberen Wasserschichten und der Küstensaum sind viel besser erforscht. „Es gibt ungefähr 16 000 verschiedene Tier- und Pflanzenarten im Golf von Mexiko, Mikroben nicht mitgezählt”, sagt der Meeresbiologe Thomas Shirley von der Texas A&M University. Diese Meereslebewesen hat das Deepwater-Horizon-Unglück zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt erwischt. Denn im April ist Fortpflanzungszeit für viele Arten. Herdentiere wie der stark bedrohte Blauflossenthun ziehen dann in den Golf, um ihre Eier abzulegen. Auch wenn das Öl die Bestände nicht direkt getötet hat, können zum Beispiel die giftigen PAKs Langzeitschäden an Eiern oder Jungtieren hervorrufen, die erst später zum Tragen kommen. In Alaska beobachtete man die Vernichtung der Heringsbestände erst mit einigen Jahren Verzögerung.

Die Selbstheilungskräfte der Natur sind gewaltig, aber sie können nicht jeden Schaden reparieren. Wer auf sie baut und leichtfertig gefährliche Fördertechniken benutzt oder Sicherheitsvorkehrungen vernachlässigt, handelt fahrlässig. Er gefährdet die Lebensgrundlagen einer Region über Generationen. Für den Meeresbiologen Jeremy Jackson, der am Smithsonian Institute in Panama den Kampf der Natur gegen die Folgen einer Ölpest vor Augen hatte, ist die Konsequenz klar: „Man darf niemals, niemals, niemals Öl ins Meer gelangen lassen.” ■

bdw-Korrespondent THOMAS WILLKE fühlt sich als Diplom-Biologe und leidenschaftlicher Segler dem Meer stark verbunden.

von Thomas Willke

DIE GRÖSSTEN ÖLKATASTROPHEN

Die Geschichte der Ölindustrie ist eine Geschichte ständiger Umweltverschmutzung. Die Karte oben verzeichnet nur die großen Unfälle. Hinzu kommen ständig kleine Unglücke, auch bei Raffinerien und ölverarbeitenden Betrieben, außerdem leckende Pipelines, undichte Ölplattformen sowie Schiffe, die ölhaltiges Schmutzwasser ablassen oder gar ihre Öltanks auf hoher See reinigen. Zusammen ergeben diese kleinen Verschmutzungen eine riesige Summe: ungefähr 600 000 Tonnen pro Jahr. Das entspricht fast der Ölmenge des Deepwater-Horizon-Unglücks. Eine permanente Ölkatastrophe findet zudem an der Küste Nigerias statt. Die Ölanlagen sind dort so marode, dass ständig Öl ins Meer austritt – seit 1960 etwa ein bis zwei Milliarden Tonnen, vielleicht sogar mehr. Das Nigerdelta, Sümpfe, Küstenwälder und Fischgründe sind dadurch weiträumig zerstört.

MEHR ZUM THEMA

US Geological Survey: www.usgs.gov/oilspill/

Smithsonian Institute: ocean.si.edu/ocean-and-you/gulf-oil-spill/science

Beide Portale bieten umfangreiche Materialsammlungen auf Englisch.

Details zu den großen Öltankerunglücken: www.itopf.com/information-services/data-and-statistics/case-histories/index.aspx

KOMPAKT

· Die Küste der Bretagne hat den 200 000-Tonnen-Öl-Unfall von 1978 gut verkraftet.

· Schlimm sieht es dagegen in Alaska aus, wo 1989 die „Exxon Valdez” mit 40 000 Tonnen Öl an Bord versank.

· Für den Golf von Mexiko sind ein Jahr nach der Explosion der Bohrplattform „Deepwater Horizon” die Prognosen sehr gemischt: So viel Öl in der Tiefsee hat es noch nie gegeben.

Corexit

Um zu verhindern, dass sich nach der Havarie große schwimmende Öllachen bildeten, hatte BP mehrere Millionen Liter des „ Spülmittels” Corexit sowohl an der Meeresoberfläche als auch direkt am Bohrloch ausgebracht. Corexit ist ein sogenanntes Detergens. Wie ein Geschirrspülmittel löst es Öl in Wasser auf.

Über die Giftigkeit dieses Mittels gibt es – wie so oft in der Geschichte der Ölunfälle – verschiedene Gutachten. In Großbritannien, dem Mutterland von BP (British Petrol), ist der Einsatz verboten. „Leider wissen wir nicht, ob Corexit den Abbau von Öl im Golf von Mexiko beeinflusst”, sagt Antje Boetius vom Alfred-Wegener-Institut. „Auf jeden Fall ist das Corexit eine zusätzliche Verschmutzung. Es muss von Bakterien abgebaut werden, und das verbraucht Sauerstoff.”

Wahrscheinlich wird die Umweltbelastung durch Corexit ähnlich lange andauern wie die durch das ausgeströmte Öl. Forscher der Woods Hole Oceanographic Institution (WHOI) in Massachusetts hatten die Konzentration von Corexit in der Tiefsee während des Ölaustritts und zwei Monate nach dem Verschluss des Bohrlochs gemessen und festgestellt, dass der Öllöser in dieser Zeit kaum abgebaut wurde.

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