Die Schlussfolgerungen der Forscher um William Rendu vom Center for International Research in the Humanities and Social Sciences (CIRHUS) in New York basieren teilweise auf der Untersuchung von Neandertaler-Funden, die bereist 1908 in La Chapelle-aux-Saints im Südwesten Frankreichs gemacht worden waren. Bereits damals gab es Vermutungen, dass die gut erhaltenen Überreste einem Grab entstammten, das Neandertaler vor etwa 50.000 Jahren für einen Verstorbenen angelegt hatten. Seitdem wurden weitere Funde von Neandertaler-Überresten Beerdigungspraktiken zugeschrieben.
Doch all diese Interpretationen blieben bis heute umstritten. Auch andere Erklärungen für die Eigenschaften der Funde und Fundorte wären möglich gewesen. Beispielsweise, dass Tiere die Knochen vergraben hatten oder dass sich Vertiefungen, in denen die Knochen lagen, durch natürliche Prozesse gebildet hatten. Rendu und seine Kollegen haben die Beweislage seit 1999 allerdings deutlich erweitert: Sie haben neue Ausgrabungen durchgeführt und die Fundstätte in La Chapelle-aux-Saints neuen Analysen unterzogen.
Keine natürliche Vertiefung im Höhlenboden
Die geologischen Untersuchungen ergaben, dass es sich bei dem Fundort der Gebeine eindeutig nicht um eine natürliche Vertiefung in der Höhle gehandelt hat, die etwa durch Wassereinwirkung entstanden sein könnte. Die Eigenschaften der Mulde passen ebenfalls nicht zum Werk eines Tieres, wie beispielsweise eines Bären, berichten die Forscher. Außerdem zeigen die Knochenfunde kaum Kratzer oder Risse, wie sie für die Fressspuren eines Raubtieres typisch wären. Funde von Rentier- oder Wisent-Knochen in der Höhle zeigen diese Zeichen hingegen durchaus, argumentieren die Forscher. „Die vergleichsweise makellosen Eigenschaften der Gebeine legen nahe, dass sie vermutlich schnell nach dem Tod bedeckt worden sind, was unsere Schlussfolgerungen stützt”, sagt Rendu.
Den Forschern zufolge ließen die Neandertaler die Körper ihrer Verstorbenen Gruppenmitglieder also nicht einfach irgendwo liegen, sondern legten Gräber an, um die Toten gezielt unter die Erde zu bringen. Die Details dieser Praxis bleiben allerdings weiterhin ein Geheimnis: „Wir können nicht sagen, ob das Begräbnis im Rahmen eines Rituals stattfand, oder ob es eher einen pragmatischen Hintergrund hatte”, sagt Rendu. Dennoch bestätige das Ergebnis erneut, dass die Neandertaler viele Verhaltensweisen besaßen, die auch den modernen Menschen bis heute kennzeichnen. Dies haben bereits andere Untersuchungen in den letzten Jahren nahegelegt. Es gibt beispielsweise Hinweise darauf, dass die Neandertaler auch einen Sinn für Schönes besaßen: Möglicherweise schmückten sie sich mit farbigen Pigmenten, Federn oder Muschelschalen, lassen Spuren im Zusammenhang mit Neandertaler-Funden vermuten. Vor diesem Hintergrund scheint es absolut plausibel, dass auch Begräbnispraktiken Teil der Neandertaler-Kultur waren.