Analysen von Zahnstein decken normalerweise Spuren von Nahrungsmitteln historischer Menschen auf – doch im aktuellen Fall erlebten Archäologen ein „blaues Wunder“: Im Zahnstein einer mittelalterlichen Frau haben sie Spuren eines kostbaren Pigments aus Lapislazuli entdeckt. Vermutlich handelte es sich demnach um eine Illustratorin religiöser Handschriften, erklären die Experten. Die Entdeckung stellt somit in Frage, inwieweit diese mittelalterliche Kunstform Männern vorbehalten war.
An den eigenen Zähnen sehen Archäologen Zahnstein sicherlich nicht gerne – an historischen Stücken allerdings durchaus: Der versteinerte Zahnbelag hat sich in den letzten Jahren zunehmend zu einer interessanten Informationsquelle über den Speiseplan historischer Menschen entwickelt. Im aktuellen Fall hat ein internationales Forscherteam Zähne untersucht, die von Personen stammen, die auf einem mittelalterlichen Friedhof bestattet worden waren, der mit einem Frauenkloster verbunden war. Von dem im 14. Jahrhundert abgebrannten Konvent bei Dalheim in der Nähe von Paderborn gibt es nur wenige Spuren und es ist auch kaum etwas über seine Geschichte bekannt. Vermutlich war das kleine Kloster aber im 10. Jahrhundert entstanden und beherbergte etwa 14 Nonnen.
Erstaunlich: Lapislazuli im Zahnstein
Im Rahmen der Studie untersuchten die Forscher unter anderem die Überreste einer 45 bis 60 Jahre alten Frau, die zwischen 1000 bis 1200 n. Chr. auf dem Friedhof bestattet worden war. Bei der mikroskopischen Untersuchung ihres Zahnsteins stießen sie auf Überraschendes: In dem Belag hatte sich offenbar ein blauer Farbstoff abgesammelt. Anschließende Analysen durch spektrographische Methoden offenbarten dann: Bei dem blauen Pigment handelte es sich um einen seltenen und teuren Farbstoff, der damals aus Lapislazuli-Stein hergestellt wurde.
Wie konnte dieses kostbare Pigment in den Zahnstein dieser mittelalterlichen Frau gelangt sein? „Basierend auf der Verteilung des Pigments in ihrem Mund kamen wir zu dem Schluss, dass sie wohl selbst damit malte und möglicherweise den Pinsel beim Arbeiten mit der Zunge befeuchtete“, sagt Co-Autorin Monica Tromp vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte. Wie die Forscher erklären, handelte es sich bei der Frau demnach um eine Illustratorin. Denn sogenannte Ultramarinpigmente aus Lapislazuli wurden, ebenso wie Gold und Silber, damals ausschließlich zur Verzierung religiöser Handschriften verwendet. Klar scheint somit auch: Sie muss eine versierte und angesehe Meisterin gewesen sein: „Nur wer über herausragende Fähigkeiten verfügte, wurde mit der Verwendung solch kostbarer Stoffe beauftragt“, sagt Co-Autorin Alison Beach von der Ohio State University.
Mittelalterliche Meisterinnen?
Wie die Wissenschaftler erklären, wirft dieser Befund nun neues Licht auf die Rolle von Frauen in Klöstern bei der Herstellung der oft reich verzierten Manuskripte des Mittelalters. Da es damals nicht üblich war, Werke zu signieren, ist generell wenig über die Künstler bekannt. Dies hat zu der Annahme geführt, dass es sich bei den Illustratoren um Männer gehandelt hat. Die neue Entdeckung scheint dies nun zu widerlegen und wirft zudem die Frage auf, wie groß die Rolle der Frauen tatsächlich gewesen sein könnte. „Wir haben hier den direkten Beleg für eine Frau, die nicht nur malte, sondern dies darüber hinaus mit einem sehr seltenen und teuren Pigment tat und das an einem sehr abgelegenen Ort“, erklärt Studienleiterin Christina Warinner vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte. „Die Geschichte dieser Frau hätte ohne die Anwendung dieser Techniken für immer verborgen bleiben können. Ich frage mich, wie viele andere Künstler und Künstlerinnen wir auf mittelalterlichen Friedhöfen finden könnten – wenn wir nur nach ihnen suchen würden“, resümiert die Wissenschaftlerin.