Bislang konzentrierten sich alle Forscher, Abenteurer und Spinner auf die Bodengravuren in der Hochebene von Nasca. Die sind spektakulär, ein regionaler Wirtschaftsfaktor ersten Ranges und wurden in den Rang eines Weltkulturerbes erhoben. Reindel wählte einen anderen Ansatzpunkt: „Wenn wir die Bodenzeichnungen entschlüsseln wollen, müssen wir die Menschen finden, die sie schufen.“ Er suchte sich deshalb mit deutscher Archäologengründlichkeit und finanzieller Unterstützung der Schweizerisch-Liechtensteinischen Stiftung für Archäologische Forschung im Ausland (SLSA) das von den Anden kommende Flußtal des Rio Grande aus.
An dessen Hängen wurde er bei einer Oberflächenerkundung (Survey) in der Nähe des Ortes Palpa, rund 40 Kilometer von Nasca entfernt, fündig: Schon 30 Zentimeter unter der Oberfläche legte er Mauerkronen frei – eine Stadt der Nasca-Leute. Und das in unmittelbarer Nachbarschaft von Bodenbildern.
Nach seiner ersten Grabungskampagne kann Reindel ein detailliertes Bild zeichnen: Vor rund 1900 Jahren hatten Siedler in der Schwemmebene von Rio Grande, Rio Palpa und Rio Viscas das heutige „Los Molinos“ hingeklotzt – ein Zentrum, 400 Meter lang und 100 Meter breit, das mit einem Meter dicken Ziegelmauern und zwölf Meter großen Hallen Gediegenheit, Macht und Reichtum verkörperte. Grundlage der Gemeinschaft war eine florierende Landwirtschaft, die durch systematische Bewässerung gesichert wurde.
Der agrarische Überschuß ermöglichte eine sozial gestaffelte Gesellschaft, in der etliche „Mitglieder vom Nahrungserwerb freigestellt waren“, beschreibt Reindel eine solche Adels-ähnliche Schicht. All das hatten die bisher ebenso spärlichen wie oberflächlichen Untersuchungen den Nasca-Leuten nicht zugestehen wollen. Dabei bedingte schon die ausgeklügelte Bewässerungskanalisation eine vorausschauende Planung und Arbeitsteilung. Unabdingbar aber war ein übergeordneter Wille – ob Häuptling, Fürst oder König – bei Anlage und Ausführung der Bodenzeichnungen. In Reindels Palpa bedecken die Linien, Dreiecke und Spiralen zu Dutzenden die Bergflanken und -ebenen, und sie reichen bis in die Siedlungen hinein.
Im touristisch noch unberührten Tal des Rio Grande ortete Markus Reindel auch die Ursprünge der Bodenzeichnungen. Zu Tausenden bevölkern dort Tiere und menschenähnliche Wesen die Felsen der Andenausläufer. Diese geritzten Petroglyphen stammen aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert. Später wurden die Felszeichnungen, um ein Vielfaches vergrößert, auf die Berghänge übertragen. Mit 10 bis 20 Metern waren sie weithin sicht- und erkennbar. „Von da aus muß sich der Boom der Bodenbilder entwickelt haben“, mutmaßt Reindel. „Sie sind dann größer und abstrakter geworden und wurden in die Hochflächen verlagert.“ Dort erst beginnt das Rätsel: Warum diese Riesenzeichnungen an Stellen, wo sie nicht erkannt werden konnten?
Hier ist der neueste Deutungsversuch: Im Auftrag der nordamerikanischen National Geographic Society (NGS) näherte sich der US-Amerikaner David Johnson dem Mirakel. Sein Fazit nach mehrjährigen Erkundungen in den Flußtälern: „Die Nasca-Linien sind ein Text, der in die Landschaft eingekerbt wurde, um den Bewohnern der Region anzuzeigen, wo Wasser verfügbar ist.“
Seine nächste Hoffnung setzt Reindel in die Grabungskampagne dieses Jahres: Er will einige Einzelgebäude angehen, die abseits der Siedlungen direkt an den Linien liegen.
In den Siedllungen wird ebenfalls weitergegraben. Denn Reindel hat ein Nahziel: „Ich will dort den Tempel finden.“ Der nächste Punkt: die Schöpfer der Linien. Das Endziel: die Lösung des Rätsels.