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Der Michelangelo der Steinzeit

Geschichte|Archäologie

Der Michelangelo der Steinzeit
Französische Archäologen sind begeistert: Am „Felsen der Zauberer“ nahe dem Dorf Angles sur l’Anglin war vor 15 000 Jahren ein herausragender Skulpteur am Werk.

Michelangelo, der große italienische Meister, schuf seinen „ David“ vor etwa 500 Jahren. Das ist lange her. Phidias, der berühmte griechische Bildhauer, arbeitete an seinem Fries für den Parthenontempel vor rund 2500 Jahren. Das ist für uns unvorstellbar lange her. Die Felsmalereien in Lascaux entstanden vor mehr als 17 000 Jahren – das ist so lange her, dass diese Zeit ins Reich der Mythen zu gehören scheint. Die Kunst der Steinzeit steckt voller Rätsel.

Wer schuf in grauer Vorzeit diese faszinierenden Malereien, Ritzzeichnungen und Reliefs? Forscher in Frankreich sind einer Antwort auf diese Frage jetzt ein kleines Stück näher gekommen. Ein Relief unter einem Felsdach, meisterhaft in den Stein geschlagen, ist der Ausgangspunkt für eine Entdeckungsreise zu den geheimnisvollen Künstlern vor Tausenden von Jahren.

Das kleine Dorf Angles sur l’Anglin hat einiges zu bieten – der Ort in der Region Poitou-Charentes, rund 340 Kilometer südwestlich von Paris gelegen, steht auf der Liste der schönsten Dörfer Frankreichs. Doch die eigentliche Attraktion liegt versteckt eineinhalb Kilometer vom Ort entfernt. Tief hat sich der Fluss Anglin dort in den Fels gegraben. Weiße Wände aus Kalkstein steigen aus dem Grün des Flussufers empor. Roc-aux-Sorciers – Felsen der Zauberer – wird der Ort genannt. Ein Trampelpfad führt zu einem Areal, das von einem hohen Zaun und von Stacheldraht umgrenzt ist. Dahinter ist eine Art Hütte direkt an die Felswand gebaut. Hier, vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen, befindet sich eines der besterhaltenen Felsreliefs der Steinzeit – entstanden vor 15 000 Jahren.

EIN PFERDEKOPF WEIST DEN WEG

1927 hatte der französische Archäologe Lucien Rousseau am Roc-aux-Sorciers Spuren eines Siedlungsplatzes aus der Steinzeit entdeckt. Überzeugt, dass der Felsen der Zauberer noch mehr Geheimnisse barg, nahm Suzanne de Saint-Mathurin die Grabungen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf. Der Durchbruch im wahrsten Sinne des Wortes kam 1950: In einer Höhle mit steinzeitlichen Fundstücken fiel der Archäologin eine kleine Nische auf, die von heruntergestürzten Felsbrocken verdeckt war. Als sie die Steine aus dem Weg räumen ließ, kam dahinter ein Pferdekopf zum Vorschein.

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Er entpuppte sich als Teil eines großen Felsreliefs. Auf rund 18 Meter Länge und 2,5 Meter Höhe reihen sich Menschen- und Tierdarstellungen aneinander. Sie zeugen von einer bis dahin unbekannten bildhauerischen Kunstfertigkeit der Menschen vor Tausenden von Jahren. Von einem „Lascaux der Skulpturen“ sprachen die Forscher begeistert in Anspielung auf die berühmten Höhlenmalereien, die 1940 in der Höhle von Lascaux im Departement Dordogne entdeckt wurden.

Heute erforscht die Archäologin Geneviève Pinçon das Relief und den Siedlungsplatz. Sie arbeitet für das französische Kulturministerium. Gemeinsam mit einem Team junger Wissenschaftler hat sie die Felswand mit 3D-Scans erfasst. Dank modernster Technik können die Archäologen die Entstehungsgeschichte des Kunstwerks ziemlich genau beschreiben.

Die frühesten Darstellungen auf der Felswand waren Gravuren. Tiere und Menschen wurden in feinen Linien in die Wand geritzt und mit roter, schwarzer und gelber Farbe koloriert. Später begannen die Menschen, die Gravuren mit anderen Darstellungen zu überdecken. Die Linien wurden tiefer und breiter, bis die Figuren schließlich als flaches Relief aus dem Fels traten. Bei einigen Figuren sieht man noch die Mischung aus beiden Techniken – Gravur plus Relief. Das Pferd, das Mathurin als Erstes entdeckte, ist in dieser Phase entstanden. Auch drei weibliche Figuren gehören dazu – sie stehen laut den Forschern für die verschiedenen Lebensalter der Frau. Unter einer der Frauen ist in gravierten Linien ein Bison zu erkennen. „Die Ähnlichkeit mit den älteren Figuren zeigt, dass hier eine kulturelle Kontinuität vorhanden ist“, erklärt Oscar Fuentes, Archäologe und Leiter des Besucherzentrums von Angles sur l’Anglin, in dem eine Kopie des Reliefs besichtigt werden kann.

DIE VERSAMMLUNG DER STEINBÖCKE

Diese kulturelle Kontinuität deuten die Forscher als Indiz dafür, dass immer die gleiche Gruppe von Menschen für eine bestimmte Zeit an diesen Ort gekommen ist. Immer wenn diese Menschen an der sonnenbestrahlten Südwand oberhalb des Flusses weilten, gestalteten sie den Felsen weiter. Dabei schufen sie auch eine atemberaubende Steinbockherde: Ein kapitaler Bock steht einem Weibchen mit ihrem Jungen gegenüber. Dahinter folgen weitere Tiere – mal in Ruhe, mal in Bewegung. Der Fries erzählt wie eine Bildergeschichte das Leben der Steinböcke in einem ganz bestimmten Moment: Nur einmal im Jahr, am Winteranfang, finden sie in dieser Weise zusammen. Es ist die Brunftzeit, die auf dem Relief dargestellt ist.

In seiner Präzision, seiner ausgezeichneten handwerklichen Ausführung und seiner Realitätsnähe ist der Steinbockzyklus der Höhepunkt des Kunstwerks. „Die anderen Darstellungen sind statisch, aber die Steinböcke wirken dynamisch“, beschreibt Geneviève Pinçon den Unterschied. „Ich bin der Meinung, dass wir hier am Stein die Entwicklung des Denkens beobachten können. Das ist das Außergewöhnliche dieses Reliefs.“

EIN grosser Künstler

Und noch mehr liest die Archäologin aus dem Steinbockzyklus heraus: Diese rasante künstlerische Entwicklung des Ausdrucks sei auf die außergewöhnliche Begabung eines Einzelnen zurückzuführen, der hier seine Ideen und sein Können im Fels verewigt hat. Dabei mögen die natürlichen Bedingungen sein Talent unterstützt haben, denn in manchen Schichten ist der Kalkstein so weich, dass man ihn wie Butter bearbeiten kann.

„Hier war ein großer Künstler am Werk, jemand mit einem ähnlichen Talent wie Michelangelo“, da ist sich Geneviève Pinçon sicher. Weitere Indizien erhärten die These von der Künstlerpersönlichkeit. Dazu gehören häufig wiederkehrende Stilelemente: Dreiecke um die Augen der Pferde, zu den Vorderfüßen geneigte Köpfe, Zeichnungen in Tropfenform an der Brust der Bisons.

Ob der Steinzeit-Michelangelo ganz allein am Werk war oder gemeinsam mit Schülern, lässt sich nicht sagen. Der größere Teil der Gruppe, die hier lagerte, war sicher mit anderen Dingen beschäftigt. Die Menschen vom Roc-aux-Sorciers jagten, fertigten Waffen, Werkzeuge und Schmuck. Tausende Objekte ließen sie zurück. Auch diese Artefakte – Perlen, verzierte Zähne, Muscheln, Steinwerkzeuge – waren von exzellenter Qualität. „Wir haben es mit einem Hauptzentrum der damaligen Kultur zu tun“, ist Pinçon überzeugt.

Die französische Archäologin vermutet, dass am Zaubererfelsen ein herausragender Künstler eine Gruppe von Menschen zu Höchstleistungen angespornt hat, nicht zuletzt weil er gutes Werkzeug benötigte und größten Wert auf Präzision legte. Der – oder die – Unbekannte hatte eine unverwechselbare Handschrift. Dadurch haben die Archäologen die Möglichkeit, auch an anderen Orten nach Spuren des Steinzeit-Michelangelo zu suchen.

Der Roc-aux-Sorciers ist einer von mehr als 250 Plätzen steinzeitlicher Wandkunst in Europa. Nur wenige davon sind Reliefs. Sie befinden sich alle in derselben Gegend – Poitou-Charente, Aquitaine – und sind ausschließlich im mittleren Magdalénien entstanden, vor rund 15 000 Jahren. Damals war der Höhepunkt der letzten Kaltphase der Eiszeit vorüber. Es wurde wärmer in Europa. Unsere Vorfahren siedelten sich zahlreich im heutigen Zentral- und Südfrankreich sowie im Norden Spaniens an. Das wissen die Forscher, weil aus dieser Zeit viele neue Siedlungsplätze gefunden wurden.

Einer dieser Plätze liegt rund 150 Kilometer Luftlinie südlich vom Roc-aux-Sorciers: La Chaire-à-Calvin, so genannt, weil der Reformator Johannes Calvin 1520 an diesem Felsüberhang gepredigt haben soll. In den 1920er- Jahren wurde hier ein Relief entdeckt. Drei Tiere sind in die Wand des Felsens geschlagen. Zwei davon deuteten die Forscher, die den Fund untersuchten, als Pferde, beim dritten Tier ist der Kopf nicht erhalten.

ZWEI RELIEFS – IDENTISCHER STIL

Schon beim ersten Betrachten des Reliefs von La Chaire-à-Calvin meinten Geneviève Pinçon und ihre Kollegen, viele Ähnlichkeiten mit Figuren vom Roc-aux-Sorciers zu erkennen. Um das zu quantifizieren, projizierten sie einen Pferdekopf vom Relief am Roc-aux-Sorciers auf einen der Pferdeköpfe in La Chaire-à-Calvin. Das Ergebnis war frappant. „Der Abstand von den Augen zum Maul war genau gleich, die Augen mitsamt dem Dreieck drum herum waren gleich groß, die Ohren waren an der gleichen Stelle – wir sahen, dass beide Köpfe zu 90 Prozent übereinstimmen“ , sagt Oscar Fuentes.

„Das gehörte zu den bewegendsten Momenten meiner Arbeit“, ergänzt Pinçon, „diese fünf Minuten, als uns plötzlich klar wurde, dass hier derselbe Künstler wie an unserem Relief am Roc-aux-Sorciers am Werk gewesen sein muss – oder jemand aus seinem Umfeld.“ Später legten die Archäologen am Computerbildschirm 3D-Scans der Tiere übereinander und stellten fest, dass sie auch das gleiche Volumen haben.

EINE FÄLSCHUNG FLIEGT AUF

Der Formenvergleich der drei Tiere mittels 3D-Scans war auch in anderer Hinsicht aufschlussreich: Zwei der drei Pferde glichen eher den Steinböcken am Roc-aux-Sorciers. Und siehe da: Eine Analyse der Bearbeitungstechnik ergab, dass zumindest einer der beiden Pferdeköpfe gefälscht ist und wohl von den Ausgräbern Anfang der 1920er-Jahre hinzugefügt worden war. Wahrscheinlich hatten die Ausgräber den Originalkopf des Tiers bei den Arbeiten aus Versehen abgeschlagen und dann einfach einen neuen Kopf, von dem sie meinten, dass er so aussah wie der ursprüngliche, in den weichen Stein gemeißelt.

Das ändert nichts am Befund: Mit detektivischem Spürsinn und moderner technischer Ausrüstung haben französische Archäologen einen steinzeitlichen Künstler ausfindig gemacht. Wie seine Zeitgenossen dürfte „Michelangelo“ vor allem Rentier- und Pferdefleisch sowie Wurzeln und Beeren gegessen haben. Manchmal standen vielleicht auch Steinbock und Mammut auf seinem Speiseplan. Er schlug mit Werkzeugen aus Stein meisterliche Figuren in den Fels. Er oder von ihm instruierte Menschen zogen zu Fuß 150 Kilometer zu einem anderen Siedlungsplatz und bearbeiteten auch dort eine Wand. Vielleicht hatte er Schüler, die die Kunst des Bildhauens von ihm lernten.

Auch in Deutschland versuchen Forscher, mehr über die Schöpfer der Eiszeitkunst herauszufinden. Hierzulande sind zwar keine Felsreliefs wie in Frankreich zu bewundern. Bei den Ausgrabungen des steinzeitlichen Siedlungsplatzes von Gönnersdorf in Rheinland-Pfalz wurden jedoch Hunderte Schieferplatten entdeckt, auf denen mit feinen Linien Menschen, Tiere und abstrakte Zeichen eingeritzt sind. Sie entstanden etwa zur gleichen Zeit wie die Figuren in Angles sur l’Anglin. Auch hier haben Archäologen ausgewählte Zeichnun-gen mittels 3D-Scans analysiert (siehe Kasten „Die Frauen von Gönnersdorf“).

KÖNNER UND UNBEGABTE

Auf diese Weise konnten die Forscher die Arbeit talentierter Künstler, die schon damals mit Proportionen nach der Regel des Goldenen Schnitts arbeiteten, von weniger versierten Graveuren unterscheiden. „Ich denke, dass es möglich sein wird, die Handschrift einzelner Künstler zu identifizieren“, meint Alexandra Güth, die am Archäologischen Forschungszentrum für menschliche Verhaltensevolution in Neuwied die Platten untersucht.

Dass große Reliefs aus der Steinzeit in Frankreich erhalten geblieben sind, nicht aber in Deutschland, ist wahrscheinlich nur den geologischen Verhältnissen geschuldet. Und so war es auch ein geologisches Ereignis, das dem Siedlungsplatz am Zaubererfelsen schnell und überraschend ein Ende bereitete: Ohne den Bergsturz, der das Felsdach und seine Skulpturen unter sich begrub und sie so vor der Erosion schützte, wüssten wir heute nichts von den steinzeitlichen Kunstwerken. ■

Für ULRIKE BIEHOUNEK, Journalistin in Leipzig, war dieses Thema maßgeschneidert: Sie hat Archäologie und Kunstgeschichte studiert.

von Ulrike Biehounek

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