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Die Angst vor den Untoten

Geschichte|Archäologie

Die Angst vor den Untoten
Vampire sind unter uns – buchstäblich: im Boden Bulgariens und Polens, Italiens und Irlands entdeckten Archäologen Belege für den Mythos der angeblichen Untoten.

Bei den Arbeiten am Kreisverkehr von Gliwice ging es rund. Als Straßenarbeiter hier in Südpolen im Juli 2013 die örtliche Infrastruktur verbessern wollten, stießen sie auf ein halbes Dutzend Skelette. Die herbeigerufenen Archäologen legten die Toten frei und standen vor den Zeugnissen einer bizarren Bestattung aus dem 15. oder 16. Jahrhundert: Die Schädel der Skelette waren abgetrennt und zwischen die Beine gelegt worden. Vampirglaube – lautete die Diagnose von Łukasz Obtułowicz. Für den Ausgräber von der örtlichen Denkmalschutzbehörde gab es keinen Zweifel: Mit den Enthauptungen sollte verhindert werden, dass die Toten aus den Gräbern zurückkehrten.

Gliwice ist kein Einzelfall. In Osteuropa, Heimat der Legende von blutsaugenden Untoten, stehen Archäologen immer wieder mit einem Bein im Vampirgrab. Und das ähnelt denen aus den Gruselstreifen der Filmstudios bisweilen in beängstigender Weise.

Am Boden festgenagelt

So hatte man im bulgarischen Perperikon einem Toten vor 700 Jahren eine Pflugschar durch die Brust getrieben. Das Ackerwerkzeug hatte den Körper am Boden festgenagelt. Den mit etwa 35 bis 40 Jahren verstorbenen Mann entdeckten Archäologen im September 2013. Für den Grabungsleiter Nikolaj Owtscharow von der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften war die Idee hinter der Tat offensichtlich: ein Ritual, um die Rückkehr aus dem Jenseits zu verhindern, sagte Owtscharow gegenüber der Presse.

In Sozopol am Schwarzen Meer fanden bulgarische Forscher 2012 einen Toten mit Eisenpfählen und Nägeln in der Brust. Im selben Jahr kam im bulgarischen Kloster St. Peter und Paul bei Veliko Tarnovo ein Skelett zutage, dessen Hände und Füße bei der Bestattung gefesselt worden waren. Beide Funde stammen aus dem 13. Jahrhundert. Die Beigabe von Bernsteinsplittern im Grab deutet ebenfalls auf einen Vampir-Mythos hin: Der Schmuckstein soll laut Überlieferung verhindern, dass die Toten in die Welt der Lebenden zurückkehren.

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„Archäologie der Angst“, nennt Anastasia Tsaliki die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Phänomen. Die griechische Archäologin hat sich auf die Erscheinungsformen sogenannter Wiedergängergräber spezialisiert und forschte einige Jahre an der Universität Durham zu diesem Thema. Sie zählt eine Reihe gruseliger Bestattungsmerkmale auf, die einen Leichnam zu einem Kandidaten ihrer Forschungsarbeit werden lassen: Enthauptung, Beschweren mit großen Steinen, Fixierung durch Nägel, Pflöcke und andere Werkzeuge sowie besonders tiefe Gräber. Auch Bestattungen an ungewöhnlichen Orten machen Anastasia Tsaliki hellhörig, etwa in Brunnen.

Aber selbst wenn der Verdacht nahe liegt, ein Vampir- oder Wiedergängergrab gefunden zu haben, bleibt die Forscherin zunächst skeptisch: „Es ist nicht einfach, eine ungewöhnliche Bestattung von der eines Mordopfers zu unterscheiden“, erklärt die Archäologin, „dazu benötigt man Erfahrung und Einblick in die lokale Ethnologie.“

Der Volksglaube ist besonders in Osteuropa von Vampirlegenden durchdrungen. Doch der Aberglaube ist nur die Kulisse, glaubt Anastasia Tsaliki. Wer dahinter blickt, erfährt einiges über die Gesellschaft der vergangenen Jahrhunderte. Tsaliki vermutet, dass die Toten zu Lebzeiten für Vampire gehalten wurden, weil sie nicht den gesellschaftlichen Normen entsprachen. Sie weist auf Entstellungen durch Krankheiten hin, etwa Pocken, Lepra oder Tuberkulose. Unerklärliche Geschlechts- oder Geisteskrankheiten seien im Mittelalter ebenfalls Gründe gewesen, um einen Menschen als Monster abzustempeln, ebenso ungewöhnliche Geburtsumstände, Exkommunizierung, Häresie, Selbstmord oder Tod vor der Taufe.

Was Knochen verraten

Mordopfer oder Mythos? Mit diesem Rätsel beschäftigt sich auch Matteo Borrini von der Universität Liverpool. Der forensische Anthropologe untersucht Skelette der vergangenen Jahrhunderte mit Methoden, die heute aus populä- ren Kriminalgeschichten bekannt sind. „Bruchstellen an Knochen verraten, ob eine Verletzung vor oder nach dem Tod zugefügt wurde“, erklärt Borrini. „Bei den meisten der bizarren Bestattungen geschah dies erst post mortem. Es handelt sich also nicht um Erschlagene oder Erstochene, sondern um ein Ritual während der Beisetzung.“

Matteo Borrini war 2006 in Venedig auf eine rätselhafte Bestattung gestoßen. Auf der Insel Nuovo Lazzaretto hatte der Forensiker ein Massengrab untersucht, in dem man die Opfer einer Pestepidemie des 16. Jahrhunderts verscharrt hatte. Dabei stieß er auf ein Skelett, dem ein Ziegelstein aus dem aufgeklappten Kiefer ragte. Die Tote war eine Frau im Alter von etwa 60 Jahren. Der Stein steckte tief in ihrem Mund. Für Matteo Borrini ein Hinweis darauf, dass der Ziegel absichtlich hineingepresst worden sein musste – und dass einst die Angst vor Vampiren in der Lagunenstadt umging.

Der Forensiker rekonstruiert ein schauriges Szenario: „Die Pesttoten wurden seinerzeit in Leichensäcken bestattet. Und der Totengräber musste die Massengräber immer wieder öffnen, um neue Leichname hineinzulegen. Dabei könnte ihm aufgefallen sein, dass der Leichensack der besagten Toten am Kopf ein Loch aufwies.“ Das könnte entstanden sein, so Borrini, als beim Verfallsprozess des Leichnams Körperflüssigkeiten austraten, die den Leinenstoff nach und nach auflösten. Der Totengräber hatte möglicherweise geglaubt, dass sich die Tote durch den Sack in die Freiheit beißen wollte.

Gruselige Gefahr aus dem Grab

Der offene Mund dürfte ihm einen weiteren Schauer über den Rücken gejagt haben. Durch ihn, so der Volksglaube, saugt ein Wiedergänger den Lebenden Energie ab. „Nachzehrer“ hießen solche Monster seinerzeit – eine Variante des Vampirs in der deutschen, österreichischen und norditalienischen Überlieferung. Der Nachzehrer war gegenüber seinen Kollegen aus Osteuropa klar im Vorteil: Er musste nicht erst mühevoll aus dem Grab kriechen und sein Opfer jagen. Stattdessen konnte er sein finsteres Geschäft bequem aus dem Erdreich erledigen – ein Ungeheuer mit Fernwirkung.

„Der Totengräber wollte vermutlich verhindern, dass die Nachzehrerin weiter die Energie der Lebenden fraß und schob ihr einen Ziegelstein zwischen die Kiefer“, meint Matteo Borrini. Die mundtote Untote erregte die Aufmerksamkeit der Presse – und Widerspruch aus der Wissenschaft. Der Ziegel könnte auch ohne menschliches Zutun an seinen Ort gekommen sein, meint Simona Minozzi, Anthropologin an der Universität Pisa: Die Kiefer von Toten stünden ja in der Regel offen, und der Ziegel sei vermutlich aus dem umgebenden Mauerwerk hineingeplumpst.

Aber solche Skeptiker beißen bei Forensiker Borrini auf Granit: „Die Spuren an Knochen und Zähnen zeigen deutlich, dass der Stein mit Gewalt in den Mund gepresst wurde. Wäre er hineingefallen, hätte Erde mit hineinrieseln müssen. Im Schädel gab es aber keine Erdspuren.“

Beim Für und Wider des Wiedergängertums spielt auch das Medieninteresse eine Rolle. Matteo Borrini wurde vorgeworfen, den Vampir von Venedig schlicht erfunden zu haben, um sich ins Gespräch zu bringen. Der Forensiker verteidigt sich: „Nur weil eine Entdeckung populär ist, muss sie nicht falsch sein.“

Dieser Meinung schließt sich Nikolaj Owtscharow an. Kurz nachdem er die Wiedergängergräber von Veliko Tarnovo entdeckt hatte, erklärte der Archäologe gegenüber der bulgarischen Nachrichtenagentur Focus Information Agency: „Wir wissen alle, dass die ganze Welt verrückt ist nach Vampiren. Ich meine, dass wir diese Faszination nutzen sollten, aber ohne die historischen Fakten zu verdrehen. Der Aberglaube hat natürlich einen gewissen kommerziellen Wert, der für die Entwicklung des Tourismus bedeutsam sein kann.“

Blutsauger und Finanzspritze – auch für Anastasia Tsaliki ist diese Kombination keine Unbekannte. Die griechische Archäologin verweist darauf, dass immer weniger öffentliche Gelder in historische und archäologische Projekte investiert werden. Tsaliki: „Einige Archäologen nutzen jedwedes Medieninteresse, um Aufmerksamkeit zu erlangen – und damit auch Gelder für ihre Forschungen.“

Wiedergänger aus der Steinzeit

Vampire und ihre Vettern haben viele Spuren in der Geschichte hinterlassen. Einige reichen zurück bis in die Jungsteinzeit. Das älteste heute bekannte Wiedergängergrab fand sich auf Zypern. In der Ausgrabungsstätte Choirokitia entdeckten Archäologen Bestattungen unter dem Fußboden eines Hauses – eine Praxis, die auch aus anderen Siedlungen der Jungsteinzeit bekannt ist. Einem der Toten aber lagen Mühlsteine auf Kopf und Brust. Überdies waren ihm Arme und Beine gebunden. Das Grab ist etwa 5000 Jahre alt. Ein Vampir der Jungsteinzeit?

Nicht jedes Ungeheuer ist gleich ein Vampir. Anastasia Tsaliki zieht eine Grenze zwischen dem Vampirglauben Osteuropas und der Angst vor Wiedergängern in anderen Ländern. Je nach Ethnie steigen mal Vampire aus den Särgen, um den Lebenden das Blut auszusaugen, mal wandeln Gespenster durch nächtliche Straßen, um die Lebenden zu erschrecken. Aber alle Spielarten des Grauens haben eines gemeinsam: die Angst vor dem Tod. Diese Nekrophobie diagnostiziert Tsaliki angesichts der Anstrengungen der Menschen einst, um sicherzustellen, dass die Toten nie wieder ans Tageslicht kommen können.

Die Angst geht um, sobald die Zersetzungsprozesse eines leblosen Körpers für scheinbar unerklärbare Phänomene sorgen. Dazu gehört die Legende, dass nach dem Tod Haare und Nägel weiter wachsen. Das ist falsch. In Wirklichkeit schrumpft die Haut des Toten und lässt Nägel und Haar länger erscheinen. Beim Zerfall gibt der Körper auch Geräusche von sich und erwärmt sich bisweilen. Solche natürlichen Phänomene lassen manche glauben, in dem Leichnam sei wieder Leben.

„Eiliges Verscharren in geringer Tiefe kann sogar dazu führen, dass der Tote wieder an die Erdoberfläche kommt, wenn sich der Leichnam durch die Vorgänge in seinem Inneren aufbläht“, erklärt Anastasia Tsaliki. „Meist wurden soziale Außenseiter oder Kranke so bestattet, weil man sie rasch unter die Erde bringen wollte. Trieben sie wieder nach oben, war der Zusammenhang zum Dämonischen schnell hergestellt.“

Uralte Ängste

Nekrophobie scheint so alt zu sein wie die Zivilisation, und ebenso verbreitet. Das 5000 Jahre alte Grab auf Zypern ist das älteste Beispiel und einer der östlichsten Funde. Die westlichsten liegen in Irland. 2011 kam bei der Ortschaft Lough Key ein Grab aus dem 8. Jahrhundert ans Licht. Darin lagen zwei Männer, denen große Steine mit solcher Kraft zwischen die Kiefer gepresst wurden, dass die Gelenke brachen. Im englischen Southwell fanden Forscher 2012 einen Toten, dem man Pfähle in Schultern, Herz und Knöcheln getrieben hatte.

Doch Vampirforscher wie Matteo Borrini und Anastasia Tsaliki befürchten, dass die meisten der mutmaßlichen Monstergräber nicht gefunden werden. „Holzpflöcke oder Kräuter in oder auf dem Leichnam vergehen, ohne Hinweise zu hinterlassen“, bedauert Tsaliki. „Hinzu kommt, dass viele angeblichen Wiedergänger enthauptet und dann verbrannt wurden.“

Die erhaltenen Spuren genügen jedenfalls für die Erkenntnis: Der Glaube an Wiedergänger und Vampire ist ein uraltes Phänomen. Doch lange Eckzähne hat bislang noch kein Forscher bei einem der Toten gefunden. •

Seit seiner Recherche zu Vampir-Gräbern schätzt der Archäologe und Wissenschaftsjournalist Dirk Husemann Knoblauch mehr als zuvor.

von Dirk Husemann

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