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Die arabische Menschenpumpe

Geschichte|Archäologie

Die arabische Menschenpumpe
Neue Erkenntnisse stellen die Entwicklung des kulturell modernen Menschen in Ostafrika infrage. Arabien rückt in den Fokus. Forscher sagen: Wir alle sind Geschöpfe des Nahen Ostens.

INDIANA JONES wäre begeistert gewesen. Eine für abenteuerlustige Archäologen maßgeschneiderte Kulisse, 260 Kilometer nordöstlich der laotischen Hauptstadt Vientiane: Dichter Dschungel. Wegloser Morast. Affengekreisch. Wildschweine, die aus dem Dickicht stürmen. Eine haarige Kletterpartie an einer schroffen Kalksteinwand, bis auf die Spitze des 1170 Meter hohen Pa-Hang-Bergs. Ganz oben gähnt der Eingang zur Tam Pa Ling, der „ Höhle der Affen“. Drinnen führt eine glitschige Rutschbahn 65 Meter steil abwärts in die Finsternis. Unten weitet sich der Gang zu einer Kammer – das Ziel der Expedition.

Laura Shackelford war überhaupt nicht begeistert. Aber der Fund, auf den die Anthropologin von der University of Illinois zusammen mit ihrem französischen Kollegen Fabrice Demeter in der laotischen Höhle stieß, ist ihr heute das Dschungelabenteuer wert. Bereits 2009 hatten die Ausgräber fast zweieinhalb Meter tief in den ungestörten Höhlensedimenten Fragmente eines menschlichen Schädels gefunden – Schädeldach, Hinterhauptbein, Schläfe, Oberkiefer mit fast vollständiger Zahnreihe. Im August 2012 veröffentlichten sie die Resultate ihrer eingehenden Untersuchung in der Fachzeitschrift PNAS.

SENSATION IN DER HÖHLE DER AFFEN

Es ist ein Glücksfall und eine archäologische Sensation. Die Uran-Thorium-Datierung der Fossilien ergab ein Alter von maximal 63 000 Jahren. Proben aus dem schädelnahen Sediment, nach dem Radiokarbon- und dem Lumineszenzverfahren datiert, begrenzen das Zeitfenster nach unten auf 46 000 bis 51 000 Jahre. Da keinerlei Steinwerkzeuge oder weitere Knochen im Sediment steckten, ist Shackelford überzeugt: Die Höhle der Affen war weder Wohn- noch Beerdigungsstätte. Der Mann – ein junger Erwachsener – war außerhalb der Höhle gestorben. Vielleicht erst Jahrtausende später wusch der Tropenregen die Reste seines Schädels in die Höhle hinunter, wo die jüngeren Sedimente ihn bedeckten. Das frühere Datum ist also das wahrscheinlichere Alter.

Sensationell ist: Bislang existierten aus diesem Zeitraum in Südostasien lediglich Funde des archaischen Homo sapiens, etwa in Gestalt des Denisova-Menschen (bild der wissenschaft 5/2012, „Ein Phantom tritt aus dem Schatten“). Doch der Mann aus der laotischen Höhle ist zweifelsfrei ein anatomisch moderner Homo sapiens: Der typische Überaugenwulst der archaischen Vorläufer fehlt, der Schädel ist kugelig und nicht baseballförmig, die Mundpartie gerade und nicht vorspringend.

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Ein derartig Moderner hat so früh im asiatischen Inland nichts zu suchen, hätte die Community noch vor Kurzem gemurrt. Zur Erinnerung: Genetiker hatten in den 1980er-Jahren errechnet, dass anatomisch moderne Menschen irgendwann im Zeitfenster vor 70 000 bis 50 000 Jahren aus Ostafrika ausgewandert seien („Out of Africa“-Szenario). Die große Wanderwelle habe – so das Szenario weiter – schon nach wenigen Tausend Jahren entlang der südasiatischen Küsten Australien erreicht, aber erst deutlich später Innerasien. Der alte Laote fern der Küste beweist: Das kann so nicht stimmen.

Fast zur gleichen Zeit wie Shackelfords Artikel erschütterte ein zweiter Schlag diese Hypothese. Es war eine Veröffentlichung von Aylwyn Scally und Richard Durbin vom Wellcome Trust Sanger Institute in Hinxton, Großbritannien. In der Septemberausgabe 2012 der Fachzeitschrift Nature Reviews Genetics erläuterten die Forscher das Ergebnis ihrer Untersuchungen an Elternpaaren und deren Kindern: Die Mutationsrate im menschlichen Genom ist nur etwa halb so groß wie bisher angenommen. Die „molekulare Uhr“ muss neu justiert werden.

Genauer gesagt: Sämtliche von Genetikern bisher ermittelten Zeitpunkte für Wanderbewegungen oder für Abspaltungen von neuen Populationen aus einer Vorläuferart müssen etwa mal zwei genommen werden. Das heißt auch: Anatomisch moderne Menschen haben nicht erst vor 70 000 bis 50 000 Jahren den Schwarzen Kontinent Richtung Asien verlassen – sondern schon vor 130 000 bis 90 000 Jahren.

Wer dürfte da noch über den uralten, aber modernen Schädel in Laos die Nase rümpfen? Laura Shackelford macht kein Hehl aus ihrer Freude: „Das ist der früheste Beweis einer völlig modernen Morphologie in Südostasien. Er belegt, dass die anatomisch modernen Menschen möglicherweise Wanderrouten im Inland gefolgt sind“ – und nicht einer bisher immer wieder propagierten „ Schnellstraße“ entlang der Küste.

Viele Tausend Kilometer westlich von Laos freuen sich drei Archäologen mindestens so sehr wie Shackelford. Denn 63 000 Jahre alte Relikte eines anatomisch modernen Menschen in Südostasien, flankiert von der Rückverlegung der Expansion moderner Menschen aus Afrika bis in die Zeit vor 130 000 Jahren – besser hätte es für diese drei Forscher nicht kommen können.

„Das passt sehr gut zu unseren 125 000 Jahre alten Spuren menschlicher Anwesenheit in Südostarabien“, sagt Hans-Peter Uerpmann von der Universität Tübingen. „Ich bin glücklich“, jubelt Jeffrey Rose in Maskat/Oman, „genau so etwas hatten wir nach unseren 106 000 Jahre alten Funden in Dhofar erwartet.“ Nicht minder euphorisch kommentiert Michael Petraglia von der University of Oxford: „I love it! Als ob eine Bombe geplatzt wäre! Bislang haben die Genetiker immer gesagt: ,Out of Africa kann auf keinen Fall vor mehr als 70 000 Jahren stattgefunden haben.‘ Das ist vom Tisch. Jetzt passen endlich die archäologischen und die genetischen Daten zusammen.“

VULKANausbruch DATIERT WERKZEUGE

Petraglia hat mit seinem Team mehrere Grabungskampagnen im Jurreru-Tal absolviert, im Herzen Südindiens. Das besondere Augenmerk der Archäologen galt einem hellgrauen Streifen in ihren Bodenprofilen: vulkanischer Asche. Sie ist das Relikt einer Katastrophe vor 74 000 Jahren. Damals sprengte der Vulkan Toba auf der indonesischen Insel Sumatra seine Spitze ab und schleuderte eine riesige Aschewolke in die Atmosphäre. Den Umkreis von mehreren Hundert Kilometern bedeckte ein graues Leichentuch. Heute ist die helle Schicht im Untergrund für Archäologen in Südasien ein willkommenes erdgeschichtliches Lesezeichen. Denn es setzt zuverlässig die Zeitmarke „74 000″ .

Manche Wissenschaftler vermuteten früher, der Toba-Ausbruch und die noch Jahre danach anhaltende Trübung des Sonnenlichts hätten um ein Haar die junge Menschheit ausgerottet. Doch die Grabungen im Süden Indiens ergeben ein anderes Bild. „Wir haben im Jurreru-Tal in einer Schicht, die etwas oberhalb der Asche liegt, also geringfügig jünger als das Toba-Ereignis ist, Werkzeuge aus der Mittleren Altsteinzeit gefunden“, berichtet Petraglia. „Und dann landeten wir einen Haupttreffer: Unmittelbar unter der Ascheschicht stießen wir ebenfalls auf Werkzeuge! Sie stammen aus der Zeit kurz vor dem Toba-Ausbruch und sind denen oberhalb der Asche sehr ähnlich.“

Der Schluss, den der Oxforder Archäologe daraus zieht: „Es waren vor dem Toba-Ausbruch Menschen dort, sie haben den Ascheregen überlebt, und sie haben dort noch viele Generationen lang weiterexistiert.“ Schon vor den Nachrichten des Jahres 2012, die Petraglia so begeistern, war er überzeugt, dass die von ihm ausgegrabenen Steinwerkzeuge von modernen Menschen stammen: „Sie sind Werkzeugen derselben Epoche aus Afrika südlich der Sahara äußerst ähnlich.“ Dort aber lebten zu dieser Zeit bereits anatomisch moderne Menschen. „Folglich muss es schon vor dem Toba-Ereignis Wanderungen moderner Menschen nach Asien gegeben haben.“

KEINE SCHNELLLÄUFER AM STRAND

Dass die Werkzeuge vom Jurreru-Tal fern der Küste entdeckt wurden, ebenso wie der Schädel aus der laotischen Höhle, bestätigt den lang gehegten Verdacht des britischen Forschers: „ Das bisherige Szenario einer raschen Expansion entlang der Küste ist Blödsinn! Das ist eine reine Annahme der Genetiker.“

Die Verfechter des „Coastal Express“ argumentierten stets: Die Spuren der Wanderwelle sind nur deswegen heute nicht zu finden, weil der am Ende der Kaltzeit gestiegene Meeresspiegel sie überflutet hat. Das lässt Petraglia nicht gelten: „Es gibt sehr wohl Küstenstreifen, die weder damals noch heute unter Wasser lagen – beispielsweise in Pakistan und Indien.“ Dort müssten eilige Strandwanderer aus Afrika auf ihrem Weg nach Südostasien entlanggekommen sein, aber nirgendwo finden sich Spuren einstiger menschlicher Anwesenheit. „Die sind keinesfalls an den Küsten entlanggewandert“, beharrt der britische Forscher. „Sie sind dem Süßwasser gefolgt, den Flüssen und Seeufern im Inland. So sieht typisches Jäger-Sammler-Verhalten aus.“

WILD UND WASSER IN ARABIEN

Flüsse und Seen als bevorzugte Expan- sionsrouten: Da könnte man annehmen, dass die Auswanderer aus Afrika einen großen Bogen um Arabien machen mussten, obwohl diese 2,5 Millionen Quadratkilometer große Halbinsel die geografische Brücke zwischen Afrika und Asien ist. Mit Arabien verbinden sich im kollektiven Bewusstsein Bilder von wasserlosen Geröllebenen, kargem Bergland und sonnendurchglühten Sanddünen. Doch dieses unwirtliche Bild stimmt nicht einmal heute ganz, und es trügt erst recht, wenn man den Blick in die Vergangenheit richtet. „Arabien war ein einzigartiges Mosaik aus unterschiedlichsten ökologischen Nischen – es gab Flüsse, die zeitweise so viel Wasser führten wie heute der Nil, Grasland mit großen Wiederkäuerherden, subtropische Wälder, Buschland und Mangrovensümpfe“, klärt Jeffrey Rose auf.

Der amerikanische Archäologe war bis vor Kurzem in Diensten der University of Birmingham und hat sein Hauptquartier den Großteil des Jahres in der omanischen Hauptstadt Maskat. Er ist sicher: Die Halbinsel „war einer der ersten Zwischenstopps für unsere Ahnen, als sie aus Afrika expandierten“. Und: Arabien spielte in der Menschheitsgeschichte wohl eine entscheidende Rolle – als Trainingscamp und Menschenpumpe.

Dass Roses Vorstellung eines vormals grünen Arabiens keine Fata Morgana ist, sondern Stand des paläogeografischen Wissens, beweisen Sedimentbohrkerne aus dem Meeresboden rund um die Halbinsel. Wie in einer Schichttorte lassen sich an den Bohrkernen die Klimaphasen vergangener Jahrtausende ablesen, etwa an Sandpartikeln und Pflanzenpollen. So etwas wie klimatische Stabilität hat Arabien demnach in den letzten zwei Millionen Jahren, seit Beginn der letzten Eiszeit, nicht erlebt – sondern es gab vielmehr ein Wechselspiel zwischen trockenen und feuchten Phasen (siehe Grafik rechts, „Arabische Achterbahn“).

VERLOCKUNG FÜR DIE AFRIKANER

Vor 130 000 bis 115 000 Jahren beispielsweise herrschte während einer eiszeitlichen Warmphase („Eem-Interglazial“) ein feuchtes Klima auf der Halbinsel. Sie war damals wasser- und wildreich. Ein weiteres Zeitfenster mit derart attraktiven Umweltbedingungen lag zwischen 105 000 und 92 000 Jahren. Beide Phasen waren geeignet, um Menschen aus Afrika auf den Nachbarkontinent zu locken – und die aktuelle Fundlage zeigt, dass dies tatsächlich der Fall war.

Extrem lebensfeindlich hingegen war es in Arabien zwischen 74 000 und 57 000 Jahren vor heute: Da versiegten die Flüsse im Inland, Grasland wurde zu trockener Steppe, und die überlebenden Tiere und Menschen drängten sich in Refugien an den Rändern der Halbinsel. Den lebensfreundlichsten dieser Zufluchtsorte vermutet Jeffrey Rose dort, wo heute der Persische Golf ist (siehe „ Paradies unter Wasser“ ab S. 28). Kleinere Ausschläge in die eine oder andere Richtung oszillierten zwischen längeren Klimaphasen. Die Vegetation folgte den Kapriolen, Wild und Menschen gezwungenermaßen ebenfalls.

In klimatisch guten Zeiten zog Arabien Jäger und Sammler an – in schlechten Zeiten trieb es die Menschen aus dem verdorrenden Inland in alle Himmelsrichtungen hinaus. Wer es in Trockenzeiten nicht in ein oasenartiges Refugium schaffte, starb. Oder er floh zurück nach Afrika, in den Tropengürtel. Oder er suchte sein Heil im Norden, im iranischen Bergland mit seinen Quellen, oder weiter im Osten Asiens.

Oder aber er erfand Neues, um vielleicht vor Ort zu überleben. „Wenn kein Wasser mehr da ist, zwingt das die Menschen, ihre Schockstarre zu überwinden und etwas zu unternehmen“, erklärt Rose. „Ich denke, die Formung anatomisch moderner Menschen zu kulturell modernen ist von hier ausgegangen – ebenso wie deren Aufbruch vor etwa 40 000 Jahren nach Innerasien und Europa. Arabien war die Wiege der kulturellen Evolution der Menschheit!“

Eine grundlegende Voraussetzung für die Stimmigkeit dieser Hypothese ist freilich, dass überhaupt anatomisch Moderne schon früh in Arabien lebten. Dies allerdings hat Jeffrey Rose nachgewiesen. Mit seinem Grabungsteam entdeckte der Forscher 2011 auf dem Nejd-Plateau in Dhofar, im Westen seines Gastlandes, mehrere Hundert Steinwerkzeuge beziehungsweise Abschläge und Kerne, die bei der Werkzeugfertigung übrig geblieben waren. Sie lagen in mehr als 100 Clustern an der Oberfläche der Gemarkung Aybut al-Auwal, einige davon zum Glück in ungestörten Sedimenten an einer einstigen Flussböschung – zwei Stücke hat Rose nach dem Lumineszenz-Verfahren datieren lassen. Beide Artefakte sind übereinstimmend 106 000 Jahre alt.

Stilistisch sind die Steinobjekte eindeutig Afrikaner – sie sind Funden aus dem Sudan und Oberägypten zum Verwechseln ähnlich. „Late Nubian Complex“ heißt dieser Werkzeugstil bei Experten. „Werkzeugtechnologie ist wie eine Sprache“, erläutert Rose. „Sie spiegelt eine regionale Tradition wider. Unsere Funde in Dhofar sprechen ganz klar eine afrikanische Sprache, nämlich die der anatomisch modernen Menschen im oberen Niltal vor über 100 000 Jahren. Und sie sind mit diesen afrikanischen Werkzeugen enger verwandt als britisches mit amerikanischem Englisch!“

Was sagen die Funde über die Menschen aus, die die Steinwerkzeuge schufen? „Es sind sehr sorgfältig gearbeitete, fehlerlose Objekte“, meint Rose. „Darunter sind sehr lange Speerspitzen, die für Stoßwaffen hergestellt wurden, nicht für Wurfspeere. Also haben die Menschen in Gruppen gejagt. Sie müssen gute Lehrmeister gewesen sein, die sogenannte Levallois-Herstellungstechnik ist aufwendig und musste den Jungen beigebracht werden. Als Rohmaterial wurde nur das Beste vom Besten verwendet, und Feuersteinknollen, die nicht erstklassig waren, ließ man liegen. Erfolgreiche Savannenjäger, alles in allem!“

JAGDAUSFLÜGE ÜBERS ROTE MEER

Wie kamen die nubischen Wildbeuter vor mehr als 100 000 Jahren von ihren alten Jagdgründen am Oberlauf des Nils in den Süden Arabiens? Hans-Peter Uerpmann von der Universität Tübingen sieht auf diesem Weg kein unüberwindliches Hindernis – im richtigen Zeitfenster: „Vor etwa 135 000 Jahren war die erste Hürde, das Rote Meer, leicht zu überwinden“, erklärt der Archäologe (siehe Grafik auf S. 25)

Weil als Folge eiszeitlicher Vergletscherung auf der Nordhalbkugel der Meeresspiegel 120 Meter tiefer lag als heute, war der trennende Meeresarm am Bab al-Mandeb – der Meerenge zwischen Ostafrika und Arabien – damals nur einen Kilometer breit. „Da konnten Menschen vom afrikanischen Ufer aus die Bäume und Tiere auf der anderen Seite erkennen“, sagt Uerpmann. „Und was sie sahen, kam ihnen bekannt und attraktiv vor. Der Jemen hat nämlich afrikanisches Klima, hüben wie drüben trifft man auf die gleiche Tier- und Pflanzenwelt.“ Auf ein paar zusammengelaschten Baumstämmen war die schmale Wasserstraße rasch überquert. „Die arabische Seite bot Vorteile, so gab es dort keine Löwen – die bedrohlichsten Fressfeinde für Hominiden“, erklärt der Tübinger Wissenschaftler.

Die Einwanderer könnten zwei Hauptrouten genommen haben, schlägt Uerpmann vor. Erstens eine Nordroute, die die Jäger-Clans bis ans Mittelmeer brachte – entlang des jemenitischen Berglands und des Hochlands von Asir. „Da war vermutlich Schluss“, sagt der Archäologe. „Dort stießen sie auf Neandertaler, die an die relativ kühlen Winter Palästinas bereits gut angepasst waren. Vor etwa 92 000 Jahren setzte außerdem eine kältere Klimaperiode ein – die eingewanderten Afrikaner hatten aber entsprechende Kleidung und Behausungen noch nicht entwickelt.“ Skelettfunde anatomisch moderner Menschen in den Höhlen von Skhul und Qafzeh in Israel, auf ein Alter zwischen 105 000 und 95 000 Jahren datiert, könnten Relikte dieses Vorstoßes nach Norden sein.

Zweitens, so Uerpmann, haben Gruppen von Einwanderern Streifzüge durch den Süden Arabiens unternommen. „Hier war das karge Nejd-Plateau in Oman die größte Hürde“, vermutet er, „aber in der feuchten Klimaphase vor etwa 130 000 Jahren ließ sie sich überwinden.“ Diese Südroute bezieht nicht nur aus Jeffrey Roses 106 000 Jahre alten Funden auf dem Nejd-Plateau einiges an Plausibilität – der Tübinger Wissenschaftler selbst hat dazu entscheidend beigetragen.

Eine Arbeitsgruppe um Hans-Peter Uerpmann und Simon Armitage, University of London, publizierte 2011 altsteinzeitliche Funde am Dschebel Faya in den Vereinigten Arabischen Emiraten – an einem Vorgebirge am Ostzipfel der Arabischen Halbinsel, nahe der Straße von Hormuz. Die ältesten Steinwerkzeuge, in einer fünf Meter tiefen Schicht am Fuß einer überhängenden Felswand entdeckt, stammen aus der Zeit vor 125 000 Jahren. Sie ähneln stark gleich alten Stücken aus Ostafrika, wo zu dieser Zeit nur anatomisch moderne Menschen lebten. Das ist ein Grund für Uerpmann und sein Team, anzunehmen, dass ihre Entdeckung die früheste Expansion afrikanischer moderner Menschen nach Eurasien dokumentiert.

SPRUNGBRETT IN RICHTUNG OSTEN

War der Felshang am Dschebel Faya das Ende des Weges für die Auswanderer – oder lediglich ein Sprungbrett, um weiter nach Osten vorzudringen? „Ein Blick auf die Landkarte zeigt: Die Fundstätte liegt gerade mal 160 Kilometer Luftlinie von der iranischen Seite des Golfs entfernt“, sagt Uerpmann. Vor 110 000 Jahren war es wieder einmal so weit, dass der Norden Eurasiens und Amerikas vergletscherte und global der Meeresspiegel sank. Auch der Persische Golf schrumpfte in solchen Phasen (siehe Beitrag „Paradies unter Wasser“ ab S. 28) und hätte Menschen, die im Osten neue Jagdgründe suchten, nicht aufgehalten.

Einen Wermutstropfen gibt es für Uerpmann, Rose, Petraglia und ihre Mitstreiter allerdings: Bislang fehlen Werkzeugfunde östlich Arabiens – etwa aus dem Iran, Pakistan oder Indien –, die zweifelsfrei Abkömmlinge der frühen arabischen Werkzeugtraditionen sind. Auch Michael Petraglias Feuersteinobjekte aus der Toba-Asche im Jurreru-Tal, die zeitlich hervorragend ins Bild passen würden, leiten sich nicht von den bisher bekannten arabischen Vorläufern ab. Doch das beirrt den britischen Forscher nicht. „Arabien ist eine archäologische Terra incognita“, sagt er. „Es gab dort bisher nur sehr wenige Grabungen. Gut möglich, dass künftig Artefakte ans Licht kommen, die die Brücke zu asiatischen Funden schlagen.“

Er selbst hat längst die Ärmel aufgekrempelt, um der Arabischen Halbinsel weitere Geheimnisse ihrer Frühgeschichte zu entreißen. Am Dschebel Qattar nahe Jubbah, mitten in der Nefud-Wüste im Norden Saudi-Arabiens, stieß ein von ihm geleitetes Grabungsteam 2011 auf 75 000 Jahre alte Steinwerkzeuge. Sie steckten in der Uferböschung eines Paläo-Sees, der in der vor 74 000 Jahren einsetzenden extremen Trockenphase restlos ausgetrocknet ist. Petraglia ist fair genug, eine Warnung auszusprechen: Werkzeuge der Mittleren Altsteinzeit wie die vom Dschebel Qattar seien im östlichen Mittelmeerraum sowohl von modernen Menschen als auch von Neandertalern genutzt worden – daher kämen beide als Urheber infrage.

Genugtuung bezieht der Oxforder Archäologe indes aus der geografischen Lage des Fundorts: Dschebel Qattar liegt 500 Kilometer von jedweder Küste entfernt. Das unterfüttert sein Argument, wonach altsteinzeitliche Jäger-Sammler-Clans keineswegs als Strandläufer unterwegs waren, sondern sich bevorzugt an den Flüssen und Seeufern im Inland aufhielten.

2,34 Millionen Euro investiert der European Research Council in den kommenden fünf Jahren in ein großes Forschungsprojekt, um mehr Licht auf die Terra incognita Arabien zu werfen. Projektleiter ist Michael Petraglia. Sein Credo hat er zum Leitmotiv des ganzen Projekts gemacht: Paläo-Flüsse und Paläo-Seen, die einst das Land durchzogen, werden von einem interdisziplinären Team von Wissenschaftlern flächendeckend aufgespürt und kartiert – beginnend mit der Auswertung von NASA-Satellitenbildern. Entlang dieser einstigen Lebensadern werden die Forscher gezielt nach Spuren aus der Frühgeschichte suchen.

DIE MENSCHEN FOLGTEN DEN TIEREN

Um die Wanderwege der Menschen zu rekonstruieren, gehen die Forscher außerdem den Tierknochensammlungen in Museen weltweit auf den Grund: Fossile Knochenfunde aus Arabien und Indien werden datiert und auf DNA-Spuren untersucht. Das Ziel ist, die Aufenthaltsorte und Stammbäume verschiedener Tiere aus den letzten zwei Millionen Jahren zu rekonstruieren.

Von den Straußen beispielsweise verspricht sich Petraglia einiges: „Wenn wir ihre Expansionsrouten während günstiger Klimaphasen herausfinden können, bekommen wir auch Hinweise auf die Wanderwege der Menschen.“ Motto: Wo Strauße grasten, waren menschliche Jäger nicht fern. ■

Ein grünes Arabien vor 100 000 Jahren: Das war auch für THORWALD EWE, Anthropologie-Redakteur bei bdw, eine Überraschung.

von Thorwald Ewe

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