Nahezu eine Million Menschen sollen 2015 vor allem aus Syrien, Afghanistan und Irak nach Deutschland gekommen sein. Die genaue Zahl lässt sich allerdings kaum erheben. Denn es lässt sich nicht ausschließen, dass Personen doppelt registriert wurden oder anschließend in andere Länder weiterzogen. Dennoch: Die sogenannte Flüchtlingskrise treibt die deutsche Bevölkerung um – und das auf ganz unterschiedliche Weise. Engagieren sich die einen in der Flüchtlingshilfe, gehen andere auf die Straße und fürchten die „Islamisierung des Abendlandes“. Parallel debattieren Politiker auf Landes-, Bundes- und Europaebene über die besten Bewältigungsstrategien oder verbeißen sich in eiligem Aktionismus – Grenze zu, Grenze auf, Obergrenze rein, Obergrenze raus.
Integration – ein kritischer Begriff
Wie sich Migration auswirkt und die Integration von Zuwanderern klappen kann, damit beschäftigten sich auch Forscher, auch schon vor dem Beginn der „Flüchtlingskrise“. Einer von ihnen ist der Sozialanthropologe Steven Vertovec in Göttingen. Im Gespräch mit bdw-Redakteurin Cornelia Varwig schildert der Amerikaner – zu lesen in der aktuellen Ausgabe von bild der wissenschaft -, dass sich Deutschland weniger in einer Krise befindet, sondern: Dem Land bietet sich eine Chance.
Doch wie soll diese Chance am besten ergriffen werden? Wie soll die Integration mehrerer hunderttausend Menschen gelingen? Mit Integration hat sich auch Steven Vertovec auseinandergsetzt und ordnet den erhofften Schlüsselweg zunächst einmal ein: und zwar als sehr kritischen Begriff. „Er ist vage und weckt falsche Erwartungen. Er setzt voraus, dass es eine einheitliche deutsche Gesellschaft gibt. Doch wie kann man dasselbe Wort verwenden für völlig verschiedene Bereiche wie Bildung, Sprachkompetenz, kulturelle Werte, soziale Netzwerke und so weiter?“ Vertovec favorisiert ein anderes Konzept, nämlich das der Teilhabe. „Das ist sinnvoller, denn damit können wir besser darüber sprechen, wie Menschen Teil der verschiedenen Systeme werden.“
Ein Chance für Deutschland
Für Deutschland sieht der Wissenschaftler aus Göttingen vor allem eine positive Herausforderung, die aus der momentanen Situation für die Zukunft wachsen kann. „Experten führen immer wieder an, dass Zuwanderung auf lange Sicht die Wirtschaft ankurbelt.“ Und: „Deutschland altert. Es braucht junge Arbeitskräfte. Und in die lohnt es sich zu investieren. So wie es sich gelohnt hat, in die Wiedervereinigung zu investieren.“
Migration und Flüchtlinge – was auf einzelne Länder und die Weltgemeinschaft zukommt und wie Forscher die Lage beurteilen, darüber berichtet bild der wissenschaft in der aktuellen Ausgabe.