Aber noch immer halten Eltern und Ärzte an ihren Irrtümern von einst fest. Boris Zernikow von der Vestischen Kinderklinik Datteln der Universität Witten/Herdecke rechnet mit rund einer Million Kindern in Deutschland, die unter chronischen Schmerzen leiden, und stellt empört fest, daß dies in den meisten Fällen nicht sein müßte. Selbst krebskranken Kindern werde eine Linderung vorenthalten, obwohl sich „90 Prozent ihrer Schmerzen ohne größere Probleme“ behandeln ließen.
Viele Kinder neigen dazu, die Wahrnehmung von Schmerzen jeglicher Art auf den Bauch zu projizieren – auch wenn die Ursache Mumps, eine Entzündung im Hals oder in den Ohren ist. Denn den Umgang mit einem so elementaren Gefühl wie Schmerz müssen sie erst lernen. Wenn Kinder „aua“ sagen, fällt es vor allem den kleineren schwer, den Schmerz zu lokalisieren. Selbst Erwachsene haben da manchmal ihre Schwierigkeiten: Ein Herzinfarkt verbirgt sich des öfteren hinter Schulter- oder Armschmerzen.
Um so schwerer fällt es, den Schmerz eines Kindes zu beurteilen. Ob er psychisch bedingt ist, ob ein gesundes Kind ihn vortäuscht oder benutzt, um Probleme zu bewältigen – all dies richtig einzuordnen setzt Einfühlungsvermögen und viel Erfahrung von Eltern und Ärzten voraus. Und daran fehlt es oft. Die gängige Praxis im Medizinbetrieb setzt auf den Überraschungseffekt, etwa beim Blutabnehmen: Die Krankenschwester lenkt das Kind ab, während der Arzt sich den Arm schnappt, das Blut mit einer Binde staut und dann schnell zusticht.