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Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus

Grundlagen der Mission

Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus

Unter dem Titel „Universität Tübingen im Nationalsozialismus“ ist ein umfangreicher Sammelband von 1136 Seiten im Franz Steiner Verlag erschienen. Er gibt den gegenwärtigen Forschungsstand zum Thema wieder und enthält zahlreiche neue Details und neue Perspektiven zur Geschichte der Universität während der nationalsozialistischen Diktatur. Der Band umfasst Studien zum Alltag an der Universität, zu Verbrechen und zu Personen, zu einschlägigen Themen des Nationalsozialismus sowie Studien der Aufarbeitung dieser Zeit nach 1945. Der Band wird herausgegeben von Prof. Dr. Urban Wiesing, Lehrstuhl für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen und Vorsitzender des 2001 gegründeten Arbeitskreises „Universität Tübingen im Nationalsozialismus“, Dr. Klaus-Rainer Brintzinger, Direktor der Universitätsbibliothek der LMU München, Dr. Bernd Grün, Lehrer in Ludwigsburg, Privatdozent Dr. Horst Junginger, Religionswissenschaftler an der Universität Tübingen, und Dr. Susanne Michl, Universität Greifswald.

Der Sammelband, der an die Ergebnisse früherer Arbeiten zur Geschichte der Universität Tübingen anschließt, enthält zahlreiche Einzelstudien, die über bisherige Forschungsergebnisse hinausgehen. Die bemerkenswerte Dynamik innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeit, die Planungseuphorie für neue, politisch gewollte Fächer, die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der formalen und inhaltlichen Gleichschaltung sowie der unterschiedlichen Formen der ‚Selbstgleichschaltung’, die damit einhergehende aggressive Personalpolitik, die verschiedenen Schattierungen zwischen Anpassung und verhaltenem Autonomiestreben werden in Einzelfallstudien untersucht. Viele Professoren schätzten die Machtergreifung der Nationalsozialisten falsch ein, nicht wenige begrüßten sie, nur ganz wenige haben vereinzelt Widerstand geleistet. Die große Mehrheit versuchte durch Anpassung, (Selbst-) Gleichschaltung, Opportunismus oder innere Emigration mit der neuen Konstellation fertig zu werden und ihre Karriere zu gestalten. Die Universität Tübingen hat keinen exponierten Vertreter des Widerstands hervorgebracht. So haben beispielsweise die Mediziner keinerlei Bedenken gehegt, ob die Zwangsterilisationen mit dem ärztlichen Ethos vereinbar wären. Auch am Tübinger Beispiel zeigt sich, dass der Nationalsozialismus an den deutschen Universitäten nicht auf eine kleine Tätergruppe reduziert werden kann.

Das Eingehen auf den Rassendiskurs des „Dritten Reiches“ gehört sicherlich zu den wichtigsten Veränderungen, die sich an der Universität ereigneten. Viele Fächer nahmen rassenkundliche Themen auf und verarbeiteten sie in einer den neuen politischen Verhältnissen konformen Weise. Zu einem besonderen Schwerpunkt wurde dabei die universitäre „Judenforschung“, die – so lässt sich zeigen – an eine lange Tradition christlich motivierter Judenfeindschaft anknüpfen konnte. So behauptete der katholische Dogmatiker Karl Adam, die Ziele des Christentums und des politischen Antisemitismus des Nationalsozialismus stimmten weitgehend überein. Der Tübinger evangelische Neutestamentler Gerhard Kittel plädierte in seiner Schrift Die Judenfrage für den Ausschluss der Juden aus der deutschen Gesellschaft. Sein Werk brachte es zu unrühmlicher Bekanntheit besonders durch die hypothetische Überlegung, dass letztlich nichts anderes übrig bliebe, als alle Juden umzubringen, falls es nicht gelingen sollte, zu einer befriedigenden Segregationslösung zu kommen. Keine andere Universität in Deutschland musste 1933 weniger Juden entlassen, weil bereits lange vorher die Anstellung von Juden verhindert worden war. Der Universitätskanzler August Hegler betonte mit Stolz am 25. Februar 1933 im Großen Senat: „[…] man habe hier die Judenfrage gelöst, dass man nie davon gesprochen habe.” Auf diesem Hintergrund bildete sich eine Form des „wissenschaftlichen Antisemitismus“ heraus, der im September 1942 in die Ernennung des evangelischen Theologen Karl Georg Kuhn zum außerplanmäßigen Professor für die Erforschung der „Judenfrage“ einmündete. Etliche Professoren äußerten sich dezidiert antisemitisch und versuchten, mit ihrem Antisemitismus in der politischen Lage Opportunitätsgewinne zu machen.

Mehrere Aktivisten des nationalsozialistischen Studentenbundes, die später zu Einsatzkommandoführern wurden und die sich an führender Stelle an der Ermordung des europäischen Judentums beteiligten, hatten in diesem Klima des Antisemitismus an der Universität Tübingen studiert und selbst aktiv dazu beigetragen. Der letzte dieser Kriegsverbrecher, Martin Sandberger, starb Ende März 2010 in einem Stuttgarter Seniorenstift.

Neben dem Täterkomplex bilden die Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns einen Schwerpunkt des Sammelbandes. Die Zwangssterilisationen werden thematisiert, ebenso die Situation der Zwangsarbeiter und die Situation der wenigen Juden.

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Eine geistige Elite an der alt-ehrwürdigen Universität ließ sich zuweilen auch zu absurden Reaktionen verleiten. Evangelische Theologen diskutierten ernsthaft, dass Adolf Hitler Gottes Wille sein müsse. „Meine Herren, wer nicht erkennt, dass der Führer uns von Gott gegeben ist, ist entweder töricht oder bösen Willens“, so Karl Fezer, Praktischer Theologe und erster „Führerrektor“ der Universität, gegenüber Repetenten des Stifts. In den Tübinger „Zwölf Sätzen“ vom 12. Mai 1934, der sich 14 Tübinger Theologiedozenten angeschlossen haben, heißt es: „Wir sind voll Dank gegen Gott, dass er als der Herr der Geschichte unserem Volk in Adolf Hitler den Führer und Retter aus schwerer Not geschenkt hat.“ Weitere Beispiele einer geradezu absurden Entstellung von Wissenschaft zeigten sich bei Berufungsverfahren. Dort spielten politische und außerwissenschaftliche Fragen bald eine tragende Rolle. So hielt es die wirtschaftswissenschaftliche Abteilung 1938 für zweckmäßig, in einem Berufungsgutachten festzuhalten, dass der ins Auge gefasste Kandidat „aus Anlass der Durchführung des Parteitages 1933 ein Bild mit eigenhändiger Unterschrift des Führers“ besitze.

Herausgeber Urban Wiesing resümiert: „Die Geschichte des Nationalsozialismus und die Universitätsgeschichte müssen nicht neu geschrieben werden, aber wir haben zahlreiche neue Details und Perspektiven herausarbeiten können. Die traditionsreiche, hoch angesehene Universität Tübingen, ein Ort der Bildung und Wissenschaft, war offensichtlich nicht vor einem Rückfall in Barbarei geschützt. Die Schutzschicht der Zivilisation kann auch bei einer altehrwürdigen Universität sehr dünn sein. Forschung und Wissenschaft schützen offensichtlich nicht vor ungeheuerlichen Abweichungen von der Zivilisation.“

Urban Wiesing, Klaus-Rainer Brintzinger, Bernd Grün, Horst Junginger, Susanne Michl (Herausgeber): Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus. Franz Steiner Verlag, 2010 (Contubernium – Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 73).

Quelle: Universität Tübingen
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