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Doch kein Beleg für Neandertaler-Raffinesse

Geschichte|Archäologie

Doch kein Beleg für Neandertaler-Raffinesse
Birkenpech lässt sich überraschend einfach herstellen. (Bild: Matthias Blessing)

Um diesen Klebstoff herstellen zu können, waren angeblich beachtliche geistige Fähigkeiten und eine komplexe Technologie nötig: Der Gebrauch von Birkenpech galt bisher als ein Beleg für die hohe Entwicklungsstufe der Neandertaler. Für diese Beweisführung eignet sich der urzeitliche Klebstoff aber offenbar doch nicht, geht aus einer experimentellen Studie hervor. Birkenpech lässt sich demnach auch auf recht einfache Weise herstellen. Als „dumm“ entlarvt dies unseren archaischen Cousin zwar nicht, als Beweis für das Gegenteil kann das Birkenpech allerdings nicht dienen, sagen die Forscher.

Keulenschwingende Primitivlinge, die schnell von unseren cleveren Vorfahren ersetzt wurden – diese Vorstellung prägte lange Zeit das Bild von den Neandertalern. Aber waren sie denn wirklich so anders als wir? In Forschungsergebnissen der letzten Jahre hat sich immer deutlicher abgezeichnet, dass die Neandertaler dem modernen Menschen durchaus ähnlicher waren als lange angenommen. Es ist beispielsweise belegt, dass sie geschickte Werkzeugmacher waren, ihre Toten bestatteten und möglicherweise sogar Formen der Kunst hervorgebracht haben.

Als ein besonders deutlicher Hinweis für die komplexen Fähigkeiten der Neandertaler galt bisher die Nutzung von Birkenpech im Rahmen der Werkzeugherstellung. Funde zeigen, dass sie diese Substanz als Klebstoff einsetzten, um Steinklingen oder -spitzen an Holzgriffen zu befestigen. Der Knackpunkt dabei: Bisher gingen Anthropologen davon aus, dass Birkenpech nur durch einen aufwendigen Prozess hergestellt werden kann, bei dem die Baumrinde unter Luftabschluss erhitzt werden muss. Denn Forscher hatten diese Substanz nur durch den Einsatz von Gruben, Lehmbauten oder Gefäßen herstellen können.

Von wegen komplexe Herstellung

Es schien somit erhebliches Know-how für die Gewinnung von Birkenpech nötig. Offenbar besaßen dies unsere archaischen Cousins und haben es über Generationen hinweg weitergegeben – so lautete bislang die Schlussfolgerung. Welches Verfahren sie bei der Herstellung konkret eingesetzt haben, blieb allerdings unklar. Dieser Frage sind die Forscher um Patrick Schmidt von der Universität Tübingen nun durch eine Studie nachgegangen.

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Sie experimentierten dazu mit in der damaligen Zeit leicht verfügbaren Materialien: Sie sammelten im Wald Birkenrinde und verbrannten sie unter verschiedenen Bedingungen. So konnten sie zeigen: Wenn man das Material zusammen mit flachen Flusskieselsteinen mit glatter Oberfläche verbrennt, bildet sich nach etwa drei Stunden ein schwarzer klebriger Stoff, der sich leicht von der Oberfläche der Steine abkratzen lässt. Doch war dies tatsächlich die einst von den Neandertalern verwendete Substanz? Die Analysen ergaben: „Es handelt sich um Birkenpech, das ähnliche molekulare Merkmale aufweist wie im Fall der archäologischen Proben, die wir von Neandertaler-Fundorten kennen“, sagt Schmidt.

„Pech“ im Indizienprozess

Zudem klebte die „simpel“ hergestellte Version sogar besser als Birkenpech, das in einem aufwendigen Prozess hergestellt wurde, zeigten Tests. Um die Haftfestigkeit des gewonnenen Pechs zu untersuchen, befestigten die Forscher damit Steinwerkzeuge an Griffen aus Rundhölzern. Anschließend schabten sie mit dem Werkzeug die Knochenhaut vom Oberschenkelknochen eines Kalbs. So zeigte sich: „Die Klebewirkung ließ dabei nicht nach“, berichtet Co-Autor Matthias Blessing.

Aus den Ergebnissen geht somit hervor: Zur Entstehung beziehungsweise Herstellung von Birkenpech ist nur ein Feuer mit Birkenrinde in Kombination mit glatten Oberflächen von Steinen oder Knochen nötig. Demzufolge könnten die Neandertaler diese Herstellungsmethode bei ihren Alltagsaktivitäten auch spontan entdeckt haben, sagen die Wissenschaftler. „Möglicherweise wurde das Wissen über die Herstellung nicht einmal weitergegeben, sondern die Klebewirkung der Rückstände sogar mehrmals entdeckt“, mutmaßt Co-Autor Claudio Tennie.

Abschließend sagt sein Kollege Schmidt: „Wir entziehen der laufenden Debatte zu den geistigen Fähigkeiten der Neandertaler mit unseren Ergebnissen nun ein wichtiges Argument. Nun muss man auf andere Weise belegen, dass sie möglicherweise bereits hochentwickelt waren“, so der Wissenschaftler.

Quelle: Universität Tübingen, Fachartikel, PNAS, doi: 10.1073/pnas.1911137116

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