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Erbitterter Streit um den Flores-Menschen

Geschichte|Archäologie

Erbitterter Streit um den Flores-Menschen
Wütende Vorwürfe, Anklagen, Gezänk: Die Frage, ob der Flores-Mensch tatsächlich eine eigene Menschenart darstellt, entzweit die Forscher. Und jetzt die sensationelle Kunde: Die kleinen Waldbewohner leben immer noch im Dschungel der Tropeninsel.

Als er ins Dschungeldorf Rampasasa kam, war das für ihn wie eine Ekstase, erzählt der indonesische Anthropologe Teuku Jacob: Sein Herz schlug schneller, das Blut rauschte in den Schläfen – „ ich war einfach überglücklich“, erinnert sich der 76-Jährige an den Moment, als er im Dschungel der Insel Flores auf extrem kleine Menschen stieß.

Sie empfingen ihn mit den feierlichen Ehrungen einer archaischen Gesellschaft, hielten Begrüßungsreden, reichten ihm Geschenke. Jacob hatte im Frühjahr 2005 als erster Wissenschaftler diese kleinen Menschen zu Gesicht bekommen, die mitten im Stammesgebiet des normalwüchsigen Manggarai-Volkes leben.

Jacob, Professor für Paläoanthropologie an der Gadjah-Mada-Universität in Yogyakarta auf der indonesischen Hauptinsel Java, hatte seit Langem vermutet: Irgendwo in seinem inselreichen Heimatland musste es auffallend kleinwüchsige Menschen geben – und einige Indizien deuteten auf Flores. In den Fünfzigerjahren hatte der niederländische Völkerkundler Theodor Verhoeven dort in der Liang-Toge-Höhle mehrere prähistorische Skelette gefunden, deren längstes 1,46 Meter maß. Daraufhin suchte Jacob bei mehreren Expeditionen auf Flores, auf den Molukken und auf Sulawesi nach noch lebenden kleinen Menschen – ohne Erfolg.

Doch dann kam der September 2003. In der Liang-Bua-Höhle in West-Flores grub ein australisch-indonesisches Archäologenteam um Mike Morwood, Peter Brown und Radien Soejono das 18 000 Jahre alte Skelett eines Zwergenmenschen aus, der gerade mal einen Meter groß war. Angesichts des auffallend kleinen Gehirnvolumens – mit knapp 400 Kubikzentimetern nur Schimpansenformat – schlossen die Archäologen, das LB1 getaufte Skelett gehöre einer eigenständigen ausgestorbenen Menschenart an, dem „Homo floresiensis“. Die Weltpresse sprach von der „Little Lady of Flores“ oder von einem „Hobbit“. Knochen von acht weiteren kleinen Individuen kamen in der Liang-Bua-Höhle ans Licht, allerdings kein weiterer kompletter Schädel.

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Jacob war alarmiert. Er nahm seine Suche wieder auf – dieses Mal in der Region um die Liang-Bua-Höhle. Im Umkreis von fünf Kilometern stieß er in den Dörfern Rampasasa, Teber und Akel auf 150 extrem Kleinwüchsige, die er als Pygmäen klassifizierte. Mit diesem von vielen Wissenschaftlern heute verpönten Begriff sind kleinwüchsige Menschengruppen unterschiedlicher Ethnien gemeint, die in den Dschungeln Zentralafrikas und Südostasiens („Negritos“ ) leben.

Nach anthropometrischen Messungen und Vergleichen mit den Liang-Bua-Fossilien schockierte der indonesische Forscher Mitte 2005 die Ausgräber um Mike Morwood mit der These: Die Pygmäen von Flores sind Nachkommen der prähistorischen Bevölkerung, von der die Liang-Bua-Skelette stammen. Und die kleinen Leute von Liang Bua sind keineswegs vor 18 000 Jahren ausgestorben. Es gibt daher gar keinen „Homo floresiensis“, so Jacob – denn die Pygmäen gehörten zweifelsfrei der Spezies Homo sapiens an. Der einzige in der Liang-Bua-Höhle gefundene Schädel mit dem sehr kleinen Hirnvolumen stamme von einem Menschen, der zufällig an Mikrozephalie litt. Das ist eine krankhafte Verkleinerung des Hirnschädels, die auch heutzutage vorkommt. Im März 2006 präsentierte Jacobs Arbeitsgruppe die Ergebnisse auf der Jahresversammlung der Palaeopathology Association in Anchorage.

Es ist November 2005, kurz vor Beginn der Regenzeit auf Flores. Feuchte Schwüle schlägt uns entgegen, als wir in der Küstenstadt Labuhan Bajo im Osten der Insel das Flugzeug verlassen. Wir sind ein fünfköpfiges Team aus einem Kameramann, einem Dolmetscher, einem Fahrer, einem ortskundigen Einheimischen und der Autorin dieses Beitrags.

Wir sind für Dreharbeiten hier, für eine Reportage im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks über die Gewürzinseln. Doch elektrisiert durch Jacobs Thesen wollen wir unbedingt auch zur Liang-Bua-Höhle – in der Hoffnung, in Dörfern in ihrer Umgebung die von Jacob beschriebenen Pygmäen filmen zu können.

Von Labuhan Bajo aus sind es drei Tagesreisen zur Höhle – ohne Ortskundige überhaupt nicht zu finden. In der Provinzhauptstadt Ruteng sind wir mit einem indonesischen Franziskanerpater verabredet. Er skizziert uns den Weg und berichtet: Nicht weit von der Höhle lebe in einem Dorf ein sehr kleiner Mensch. Er weiß, wo und wird uns begleiten.

Mit Geländewagen quälen wir uns über schlammige Urwaldpisten. Endlich stehen wir vor Liang Bua („Kalte Höhle“). Die Tropfsteinhöhle ist wirklich angenehm kühl und so groß wie eine Kathedrale. Doch wir haben es nicht auf die Fundstelle der Hobbits abgesehen, die längst wieder unter festgestampftem Lehm verschwunden ist. Wir wollen den lebenden kleinen Mann finden – weiter oben im Tal.

Mit dem Geländewagen ist kein Weiterkommen. Wir steigen um auf das Buschtaxi. Auf den harten Holzbänken eines Lkws mit riesigen Reifen holpern wir im Schritttempo dem Dschungeldorf Akel entgegen. Ein Empfangskomitee begrüßt uns. Wir fragen nach dem kleinen Mann. Er sei vor zwei Wochen gestorben, sagt der Dorfvorsteher und zeigt uns sein Grab. Wir fragen nach der Körpergröße des Verstorbenen. Er sei 1,24 Meter groß gewesen und ungefähr 90 Jahre alt geworden, erfahren wir.

Wir sind zu spät gekommen. So sieht es zumindest aus. Aber der Dorfvorsteher lässt nach dem Sohn des kleinen Mannes schicken. Er erwartet uns auf dem Ehrenplatz der „Kulturhalle“ und ist schätzungsweise etwa 1,30 Meter groß. Nach mehreren Begrüßungsreden und einem lebenden Hahn als Gastgeschenk ergreift Petrus Bambut das Wort. 70 Jahre sei er alt, berichtet er und erzählt dann von den kleinen Leuten, die hier im Dschungel wohnen: „Wir haben immer friedlich mit den großen Leuten zusammengelebt. Die großen Leute zeigen den kleinen Leuten gegenüber stets Respekt, denn wir sind listig, klug und stark, und wir lassen unsere großen Mitmenschen nie im Stich.“

Als wir Teuku Jacob an der Universität Yogyakarta aufsuchen, erleben wir einen Wissenschaftler, der seiner Sache absolut sicher ist – auch wenn die australischen Kollegen um Mike Morwood, die ihren Homo floresiensis attackiert sehen, noch so schäumen. Für ihn ist klar: Die lebenden Pygmäen sind mit den Zwergen von Liang Bua verwandt.

Auf seinem Schreibtisch stehen die Kopie des Schädels LB1 und die Kopie eines weiteren Unterkiefers mit Zähnen, ebenfalls aus der Liang-Bua-Höhle. Er zeigt viele Fotos der kleinwüchsigen Männer und Frauen, die er in Rampasasa, Teber und Akel gemacht hat. Auch Petrus Bambut und dessen verstorbener Vater sind darunter.

Jacob hat ihre Körpergröße, ihr Gewicht und die Form ihrer Schädel festgehalten und Zahnabdrücke gemacht. Die Menschen wiegen zwischen 30 und 40 Kilogramm und sind im Schnitt 1,48 Meter groß. Mehr als 30 Merkmale der Kleinwüchsigen hat er mit den Knochenfunden von Liang Bua verglichen. Die Gesichtsform mit dem fliehenden Kinn und vor allem die Kiefer und Zähne gleichen den Knochenfunden von Liang Bua, betont der indonesische Anthropologe.

Im Laufe vieler Jahrtausende habe sich Homo sapiens auf Flores zum Pygmäen entwickelt. Pygmäisierung sei eine Anpassung an spezielle Umweltbedingungen: In dem schwer zugänglichen, ressourcenarmen Dschungel hätten flinke, wendige Menschen mit wenig Körpermasse und geringem Kalorienbedarf eindeutige Vorteile gehabt.

Jacob hat den einzigen Schädel LB1 und etliche Knochen aus Liang Bua genau vermessen. Die dort gefundenen Individuen waren durchschnittlich 1,26 Meter groß, erläutert er. Damit glichen sie den lebenden kleinen Menschen von Rampasasa. Lediglich der einzige erhaltene Schädel weise Abnormitäten auf – Anzeichen für die Hirnkrankheit Mikrozephalie. Und an genau diesem Punkt klaffen weltweit die Deutungen sperrangelweit auseinander.

Einige Wissenschaftler stützen aufgrund ihrer Untersuchungen die zentrale These von Jacob, dass „Homo floresiensis“ in Wahrheit ein Homo sapiens mit Mikrozephalie ist: beispielsweise die australischen Forscher Maciej Henneberg und Alan Thorne, der US-Amerikaner Tom Schoenemann und der deutsche Anatom Jochen Weber vom Leopoldina-Krankenhaus in Schweinfurt. Andere sehen keine krankhafte Veränderung und vertreten die entgegengesetzte These, wonach es sich durchaus um eine separate Menschenart handelt. Diese Ansicht vertritt prononciert – neben den Ausgräbern von Liang Bua, den Australiern Mike Morwood und Peter Brown – die Amerikanerin Dean Falk von der Florida State University.

Eine Kopie des Schädels LB1 steht auch in Frankfurt am Main auf dem Schreibtisch des Paläobiologen Friedemann Schrenk, der an der Universität und am Forschungsinstitut Senckenberg tätig ist. Er kann an dem Schädel nichts Pathologisches erkennen. Schrenk hält es für möglich, dass der Urahn des heutigen Menschen im Laufe seiner Wanderungen von Afrika über Südasien bis zum indonesischen Inselarchipel verzwergt ist – das könne über zwei Millionen Jahre gedauert und schon bei Homo erectus oder dessen Vorfahren begonnen haben.

Ob „Homo floresiensis“ in Wahrheit ein moderner Mensch ist oder – wie auch diskutiert wurde – direkt vom Frühmenschen Homo erectus abstammt, könnte eventuell eine DNA-Analyse zeigen. Mit dieser Bitte traten die Indonesier um Teuku Jacob an Jean-Jacques Hublin heran, Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Hublin bekam zwei Knochenproben, um sie in Leipzig auf Erbsubstanz-Reste zu untersuchen. Unter Protest: Das Lager um Mike Morwood und Peter Brown warf den Indonesiern wissenschaftlichen Raub vor – Jacob habe seinen Einfluss spielen lassen, um an die Liang-Bua-Fossilien zu kommen, sie selbst zu untersuchen und dann sogar Proben an das Leipziger Institut zur Analyse zu geben.

Die Suche nach DNA war erfolglos – anhand von Erbsubstanz hat sich die Frage, ob die Fossilien von Homo sapiens stammen, nicht klären lassen. Hublin ist immer noch verärgert über den weiter tobenden Wissenschaftlerstreit. Zu wenig hätte man die indonesischen Archäologen in die Untersuchungen einbezogen, zu sehr hätten sich die Australier in den Vordergrund gespielt. „Die Geschichte von Liang Bua ist für mich ein klarer Fall von wissenschaftlichem Kolonialismus“, sagt Hublin. Die Australier im Entdeckerteam seien äußerst unfair mit ihren indonesischen Kollegen umgegangen.

Tony Djubiantono, Direktor des Indonesischen Zentrums für Archäologie in Jakarta, will abwarten, bis sich die ganze Aufregung gelegt hat. Zu einem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft wird er ein internationales Symposium einberufen. Dann sollen sich alle Beteiligten an einen Tisch setzen und diskutieren.

Teuku Jacob wird auf jeden Fall nach der Regenzeit seine Feldarbeit fortsetzen – diesmal mit einer Grabung in einer Höhle im Zentrum von Flores. Außerdem plant er weitere Untersuchungen an den Pygmäen von Rampasasa. Er ist glücklich, auf der Fährte der kleinen Menschen zu sein. ■

MONIKA KOVACSICS ist Diplom-Biologin und freie Wissenschaftsjournalistin. Ihr Fokus: Life Sciences, Medizin und Ethnologie.

Monika Kovacsics

COMMUNITY LESEN

Die Veröffentlichungen der Ausgräber um Mike Morwood über den „ Homo floresiensis“:

A SMALL-BODIED HOMININ FROM THE LATE PLEISTOCENE OF FLORES, INDONESIA

In: Nature Vol. 431, 28. Oktober 2004, S. 1055–1061

ARCHAEOLOGY AND AGE OF A NEW HOMININ FROM FLORES IN EASTERN INDONESIA

in derselben Nature-Ausgabe, S. 1087–1091

Gute Einführung in unsere Evolutionsgeschichte:

Friedemann Schrenk

DIE FRÜHZEIT DES MENSCHEN

Der Weg zum Homo sapiens

C.H. Beck, München 2003, € 7,90

Ohne Titel

• Archäologen entdeckten 2003 auf Flores ein nur einen Meter großes Skelett mit winzigem Hirnschädel – angeblich eine bislang unbekannte Menschenart „Homo floresiensis“.

• Der Anthropologe Teuku Jacob indes hält den Fund für einen Pygmäen mit krankhaft verkleinertem Gehirn.

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