Was beim ersten Hören seltsam und ein bisschen lustig klingt, hat weitreichende Konsequenzen für den Orientierungssinn, beobachtete beispielsweise der Sprachwissenschaftler Stephen Levinson vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik im niederländischen Nijmegen. Er unternahm vor einigen Jahren Wanderungen durch den australischen Busch, begleitet von einigen nordaustralischen Aborigines vom Stamm der Guugu Yimithirr. Nach einigen Stunden bat er sie, ihm mit Gesten zu zeigen, wo ihre Siedlung liege und wo er sein Auto geparkt habe. Das Ergebnis war verblüffend: Obwohl sie mitten im Dickicht standen, sich also nicht an markanten Landmarken orientieren konnten, stimmten die Angaben der Aborigines, wie Levinson mit Hilfe seines Kompasses feststellte. Den benötigen die Guugu Yimithirr nicht, sie tragen ihn ganz offensichtlich bereits in sich.
Betrachtet man umgekehrt die Völker, die sich über das Links-Rechts-System orientieren, fällt schnell auf, wie problembehaftet diese Methode ist. Das beginnt schon im Kindesalter: Eltern denken oft mit Grauen an die Zeiten zurück, da sie ihren Sprösslingen den Unterschied zwischen links und rechts begreiflich zu machen versuchten. Der scherzhafte Spruch „rechts ist da, wo der Daumen links ist“ verdeutlicht nur, wie oft es tatsächlich zu Verwechslungen kommt.
Wenn aber nun dieses System so kläglich versagt, stellt sich schnell die Frage, ob nicht die Orientierung an den Himmelsrichtungen das evolutionär ältere Verfahren ist zumal es bei manchen Naturvölkern bis heute existiert. Einige Wissenschaftler sind dieser Frage auf den Grund gegangen. Zu ihnen gehört der Kognitionspsychologe Daniel Haun vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Er untersuchte die Orientierungsstrategien von sechs verschiedenen Teilnehmergruppen: Menschenaffen darunter Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans , vierjährigen Deutschen, achtjährigen Holländern, erwachsenen Holländern, sowie achtjährigen und erwachsenen Mitgliedern vom Stamm der Hai||om, einer Jäger-und-Sammler-Kultur in Nordnamibia (das „||“ steht für einen speziellen Schnalzlaut).
In einigen Punkten entsprach das Ergebnis den Erwartungen von Haun und seinen Kollegen. Die achtjährigen und die erwachsenen Holländer etwa dachten auf ihre eigene Person bezogen. Die Hai||om hingegen orientieren betrachteten den Gegenstand hingegen nur im Verhältnis zu seiner Umgebung. Auch die Affen bevorzugten diese an der Umgebung orientierte Strategie. Völlig überraschend konnten die Wissenschaftler jedoch beobachten, dass auch die vierjährigen deutschen Kinder sich an der Umgebung ausrichteten. Das lässt nach Ansicht von Daniel Haun nur einen Schluss zu: „Die Rechts-Links-Strategie ist eine kulturelle Konvention, die wir früh von unseren Eltern beigebracht bekommen. Doch evolutionär im Menschen angelegt ist vorrangig die Orientierung nach der Umgebung und den Himmelsrichtungen.“
Bei kleinen Kindern, denen die Rechts-Links-Strategie noch nicht antrainiert worden ist, funktioniert dieser innere Kompass noch, zeigt auch ein Experiment der amerikanischen Psychologin Anna Shusterman von der Wesleyan University in Middletown, Connecticut. Sie erklärte vierjährigen amerikanischen Kindern in einem geschlossenen Raum anhand von Zeigespielen, wo Norden und Süden waren. Auf einer anschließenden Wanderung durch die Flure des Instituts konnten 84 Prozent der kleinen Probanden problemlos angeben, wo sich diese beiden Himmelrichtungen jeweils befanden obwohl die Kinder in Abständen immer wieder um 180 Grad gedreht worden waren.
Der Grund für die Entwicklung des Links-Rechts-Systems könnte nach Ansicht von Haun jedoch eben jener gleichförmigen städtischen Umgebung geschuldet sein, in der man sich die meiste Zeit zwischen Hauswänden bewegt. „In einer Umgebung ohne freien Blick könnte die Orientierung sich auf den eigenen Körper verlagert haben.“ Männer und Frauen haben ihr natürliches Orientierungsvermögen dabei übrigens gleichermaßen links liegen lassen.