In einer Höhle im US-Bundesstaat Alabama haben Forscher hunderte von präkolumbischen Felsbildern entdeckt, darunter einige der größten je in Nordamerika gefundenen. Die in die Sedimentschicht der Höhlendecke geritzten Motive bedecken mehr als 400 Quadratmeter Fläche und zeigen abstrakte Muster, Tiere und zahlreiche anthropomorphe Figuren. Spannend auch: Wegen der niedrigen Gänge müssen die Künstler einige dieser Bilder gemalt haben, ohne sie jemals ganz sehen zu können.
Die Höhlenmalerei gehört zu den ältesten künstlichen Ausdrucksformen der Menschheit. Schon vor mehr als 40.000 Jahren verzierten Menschen in Europa und Südostasien Felswände mit farbigen Bildern oder eingeritzten Motiven. In Nordamerika waren lange Zeit nur oberirdische Beispiele für Felskunst bekannt – Felszeichnungen an Klippen oder im Eingangsbereich von Höhlen. Erst 1979 entdeckten Archäologen erstmals auch Malereien in der Dunkelzone einer Höhle. Seither wurden 89 weitere präkolumbische Höhlenmalereien entdeckt. Meist handelt es sich dabei um einfarbige Motive, die in die natürliche Sedimentauflage der Höhlenwände oder -decken eingeritzt wurden.
Erst die Photogrammetrie enthüllte die Motive
Eine der prominentesten und reichhaltigsten Fundstätten von präkolumbischer Höhlenkunst ist die sogenannte 19. unbenannte Höhle im US-Bundesstaat Alabama. Die in einer Kalksteinformation liegende Höhle umfasst mehr als fünf Kilometer lange, nasse Gänge, die teilweise nur 60 Zentimeter hoch sind. „Sie enthalten hunderte von Glyphen, die in die natürliche Sedmentbeschichtung der Höhlendecke eingekerbt wurden“, berichten Jan Simek von der University of Tennessee und seine Kollegen. „Diese Bilder bedecken eine Fläche von fast 400 Quadratmetern mit wechselnder Dichte, die Spanne reicht von einzelnen Figuren zu Palimpsesten von sich stark überlappenden Ritzzeichnungen.“ Datierungen zufolge entstanden diese Bilder im Zeitraum zwischen 133 und 949 unserer Zeit, wie das Team berichtet.
Allerdings konnte bisher nur ein Teil der Felsbilder erfasst und näher untersucht werden, weil die Gänge an vielen Stellen so niedrig sind, dass man die Motive nur auf dem Rücken liegend betrachten kann. Der selbst dann noch geringe Abstand zur Höhlendecke macht es jedoch unmöglich, die Motive als Ganzes zu sehen oder zu fotografieren. Deshalb haben nun Simek und sein Team das Höhleninnere mithilfe der Photogrammetrie kartiert. Dafür erstellten sie zunächst mehr als 16.000 sich überlappende Teilaufnahmen der Höhlenwände und -decke. Diese wurden dann mit einem speziellen Computerprogramm zu einem dreidimensionalen Modell zusammengefügt.
Anthropomorphe Gestalten und eine Klapperschlange
Das Ergebnis ist ein erstes vollständiges virtuelles Abbild der Felsmalereien aus der 19. unbenannten Höhle. Es bietet den Forschern erstmals die Möglichkeit, einige der Motive in Gänze zu betrachten – mit überraschenden Ergebnissen: „Die 3D-Modelle der Höhle ermöglichten es, sehr große Glyphen zu identifizieren, die in Person nicht erkenntlich waren“, berichten Simek und sein Team. Zu diesen neuentdeckten Motiven gehört eine knapp 3,40 Meter lange Schlange mit rundem Kopf und einem Muster auf dem Rücken, das der Körperzeichnung einer Diamant-Klapperschlange ähnelt. „Dieses beeindruckende Tier war den Völkern im Südosten Nordamerikas heilig“, erklären die Forscher. Ihren Angaben zufolge ist diese Schlangenabbildung gleichzeitig das größte Felsbild, das bisher in Nordamerika gefunden wurde.
Ebenfalls spektakulär sind drei bis zu 1,80 Meter große menschenähnliche Figuren. Diese zeigen eckige Köpfe und Rümpfe, die meist mit Mustern aus Quer- und Längslinien ausgefüllt sind. Vom Kopf dieser Figuren gehen Linien aus, die Federn oder in einem Fall auch spitze Ohren darstellen könnten. „Wir wissen nicht, wen diese anthropomorphen Figuren darstellen sollen – sie entsprechen keinem der ethnografisch dokumentierten Charaktere aus den Geschichten der Ureinwohner des Südostens und auch nicht den ikonografischen Materialien aus archäologischen Funden“, erklären die Archäologen. Allerdings besitzen die Figuren einige Merkmale, die mit denen anderer Felsbilder übereinstimmen, darunter anthropomorphen Figuren mit Kopfschmuck. Auch Klapperschlangen und einige der abstrakten Muster tauchen in ähnlicher Form anderswo auf.
Das Team geht daher davon aus, dass auch die Motive in der von ihnen untersuchten Höhle eine religiöse Bedeutung hatten. Zudem galten Höhlen im Glauben der Ureinwohner als Eingänge zur Unterwelt. „Die großen Figuren in der 19. unbenannten Höhle repräsentieren daher wahrscheinlich Geister der Unterwelt“, schreiben Simek und seine Kollegen. „Ihre Macht und Bedeutung drückte sich in der Größe und dem Kontext dieser Abbildungen aus.“ Das Faszinierende an den Felsbildern dieser Höhle ist dabei jedoch auch, unter welchen Umständen sie entstanden sein müssen: „Die Motive sind so groß, dass ihre Schöpfer sie zeichneten, ohne sie je als Ganzes zu sehen“, erklären die Archäologen.
Quelle: Antiquity, doi: 10.15184/aqy.2022.24