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Himmlisches Jerusalem in Hildesheim

Geschichte|Archäologie

Himmlisches Jerusalem in Hildesheim

Vor 1000 Jahren, im Jahr 1010, legte Bischof Bernward in Hildesheim auf dem höchsten Hügel der Stadt den Grundstein für die Kirche St. Michael. Sie liegt oberhalb der Innerste, eines Nebenflusses der Leine, und überragt den Dom. Heute lässt sich das Baugeheimnis dieser Kirche lüften und die ihr zugedachte Funktion erkennen.

Die im frühromanischen Stil und mit einer um 1230 nachträglich bemalten Flachdecke gebaute Michaeliskirche ist ganz außergewöhnlich. Im Blick von Süden wirkt sie kraft‧voll und majestätisch, schnörkellos und geschlossen, ruhend und überaus harmonisch. Man sieht ein Haupt- und zwei Seitenschiffe, im Westen und Osten je ein Querhaus mit zusammen vier Treppentürmen an den Enden, auf den Vie‧rungen zwei gleichwertige pyramidenförmig zugespitzte Türme, eine Krypta im Westen und eine dreigliedrige Apsis im Osten. Unverkennbar ist die doppelte Symmetrie der Kirche. Ihre Harmonie steigert sich im Innern zu einem großartigen ästhetischen Genuss, zu einer greifbaren Erfahrung des sakralen Ideals. Warum ist die Kirche so schön?

Als St. Michael 1985 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde, wusste man wohl um ihre nach der Kriegszerstörung vom 22. März 1945 wiederhergestellte Schönheit, nicht aber konnte man die Gründe benennen. Diese sind jetzt entdeckt und als Forschungsergebnisse vorgelegt worden. Deren Autoren haben als Erste die Kirche vollständig vermessen. Und siehe da: Mathematik, Geometrie und musikali‧sche Harmonie haben eine im biblischen Sinn vollkommene Architektur geschaffen. Im alttestamentlichen Buch der Weisheit Salomos steht: „Gott hat alles nach Maß, Zahl und Gewicht [= Gleich‧gewicht] geordnet.“ (11, 20) Genau das wollten die Menschen vor 1000 Jahren in Hildesheim. Sie wollten den göttlichen Kosmos in irdischer Vollendung als sakrale Architektur nachgestalten und sich so das ewige Heil sichern.

Im Alten Testament (Ezechiel) sowie im Neuen Testament (Offenbarung des Johannes) steht jeweils die Vision eines Himmlischen Jerusalem, wie ein Engel sie dem Propheten zeigt und sie ausmisst. Sie ist in St. Michael in Hildesheim als der einzigen bisher bekannten Kirche der Welt maßstabsgetreu und ideal nachgebaut worden: Durch drei konzentrische Quadrate mit den Seitenlängen 100, 120, 150 (gemeint sind sächsische Fuß zu 33,3 Zentimetern). Das große Quadrat entspricht genau der Ost-West-Länge des Kernbaus, das mittlere der Nord-Süd-Breite, das kleine spannt sich zwischen den Innenkanten der Treppentürme auf und gibt zugleich die Höhe der Kirche an. Diese ist also im Kernbau ein Kubus: so lang wie breit wie hoch. Das mittlere der drei Quadrate ist das harmonische Mittel der beiden anderen. Die Beziehungen aller drei Quadrate zueinander entsprechen harmonischen Intervallen: 100 :  150 = 2 : 3 = Quinte; 100 :  120 = 5 : 6 = kleine Terz; 120 :  150 = 4 : 5 = große Terz.

Ein ebenso großartiges wie feingliedriges vieleckiges Netzwerk bestimmt das Innere der Kirche. Nichts ist zufällig. Alles hat sein vorbestimmtes Maß, seine Länge und Breite, seinen Ort. Die Symbolik, vor allen Dingen mit den Zahlen 3, 4, 7, 8, 9, 10, 12 und 20, ist bis zur Vollendung getrieben. Die Architektur bietet so eine theologische Manifestation in der Sprache der Wissenschaften, der Mathematik, Geometrie und Musik, der Theologie und Geschichte.

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Griechen haben damals das mathematisch-geometrische Wissen mitgebracht – sie gehörten zum Gefolge der Kaiserin Theophanu, der Nichte des oströmischen Kaisers, die die Gattin Ottos II. geworden war. Sachsen haben die Kirche gebaut: Orient und Okzident haben in Hildesheim ein mittelalterliches Kunst- und Gemeinschaftswerk geschaffen, ein Unikat der sakralen Welt.

Es bleibt die Frage zu beantworten: Was war vor 1000 Jahren der motivierende politische Baugedanke? Der sächsische Adlige Bernward wurde 993 Bischof des Bistums im damals fernen sächsischen Osten, das im Jahr 815 von den Karolingern gegründet worden war. Die Ortswahl war sehr klug, denn hier, im sächsischen Hildineshem, kreuzten sich am Übergang der deutschen Mittelgebirge in die norddeutsche Tiefebene, strategisch äußerst wichtig, die Fernstraßen von Süd nach Nord (von Mainz nach Bremen und Hamburg) und von West nach Ost (von Aachen nach Magdeburg). Hier gab es fruchtbare Bördeböden, hier war man nah an den Abbaumöglichkeiten der Harzer Erze.

Bernward war eine herausgehobene Persönlichkeit. Er war über Jahre hin als Priester ein Mann der Kanzel und als Notar ein Mann der Kanzlei am ottonischen Hof gewesen. Da der Herrscher damals noch im Sattel zu regieren pflegte, war Bernward sein ständiger Begleiter auf allen Reichsfahrten. Er lernte die Welt kennen, vor allen Dingen die italieni‧sche und westfränkische. Seine Vertrauensstellung war bedeutend, denn Otto II. und seine Gemahlin machten ihn zum Erzieher des Kronprinzen.

Dieser wählte dann als Otto III. die Idee einer Erneuerung des römischen Imperiums auf der Machtbasis des ostfränkischen und bald deutschen Reichs zu seinem politischen Programm. Motiviert wurde er durch die großen Erfolge der noch jungen otto‧nischen Dynastie sowie durch seine Mutter Theophanu. Otto III. dachte an Rom als die zu erneuernde Zentrale. Der römische Adel aber war da‧gegen, und der Berater Bernward wollte die Mitte nach Sachsen, in das neue Kernland der Macht, verlegen.

Die Michaeliskirche, das Himmlische Jerusalem in Hildesheim, sollte diese Mitte symbolisieren. Der ottonische Reichsengel St. Michael, der in den großen sächsischen Entscheidungsschlachten an der Unstrut (933) und auf dem Lechfeld (955) als Sieghelfer auf dem Banner des Herrschers vorangetragen worden war, wurde der Patron der Kirche. Noch waren Papst und Kaiser geeint im Bemühen um die rechte Ordnung der Welt. Die Architektur der Kirche zeigt das in den beiden gleichwertigen Vierungstürmen. Zwei Generationen später, seit der Mitte des 11. Jahrhunderts, schlossen die cluniazensische Klosterreform und der neue imperiale Machtanspruch Papst Gregors VII. („Dictatus Papae“ von 1074) dieses Fenster der Geschichte. Es hatte nur wenige Jahrzehnte offengestanden, um die Idee einer ottonischen Reichskirche zuzulassen. Nie wieder in der Geschichte des christlichen Abendlands hat es eine vergleichbare sakral-architektonische Demonstration einer gemeinsamen Herrschaft des kirchlichen und politischen Oberhaupts gegeben. St. Michael ist ein Solitär geblieben, vergleichbar nur dem salomonischen Tempel von Jerusalem und der Hagia Sophia in Byzanz.

Die Kirche hat die ihr zugedachte Idee nicht leben können. Ihr wichtigster Adressat, Otto III., starb schon 1002, gerade einmal 21 Jahre alt. Dessen Nachfolger, Heinrich II., ging sofort nach Bamberg. Sachsen geriet wieder in den Windschatten der Geschichte. Bernward hatte es zu verhindern versucht, indem er als Ottos Nachfolger den Meißner Grafen Ekkehard ins Gespräch brachte und diesen in Hildesheim bereits „wie einen König“ empfing. Aber zwei Monate später wurde dieser ermordet.

Der Grundstein für St. Michael wurde dennoch nach den schon 993 gefertigten Bauplänen 1010 gelegt, jetzt aber nicht für eine sächsische Kaisergrablege, sondern für die Memoria des Bischofs Bernward. Ihre architektoni‧sche und ikonoplastische Qualität (Darstellung eines ver‧borgenen Gottes) stehen aber weit über der Funktion einer bischöflichen Grablege. Alles spricht dafür, sie als die gewollte, allerdings später so nicht angenommene ottoni‧sche Reichskirche anzusprechen – wie die Basilika in Aachen als die karolingische und den Dom in Speyer als die salische Reichskirche.

Literatur: Manfred Overesch / Alfhart Günther, Himmlisches Jerusalem in Hildesheim. St. Michael und das Geheimnis der sakralen Mathematik vor 1000 Jahren. Göttingen 2009.

Quelle: Prof. Dr. Manfred Overesch
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