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Kampf um Kalorien

Geschichte|Archäologie

Kampf um Kalorien
Warum verschwanden die Neandertaler – hat der moderne Mensch sie auf dem Gewissen? Verdrängungsprozesse jüngeren Datums zwischen Jäger-Sammler-Völkern lassen erahnen, was damals geschah.

Der Wortwechsel am Wasserloch hinter ihm wurde immer heftiger. Jim O’Connell kauerte ein paar Schritte entfernt auf dem Steppenboden und starrte auf das Display des GPS-Geräts. Er hoffte inständig, dass das Ding endlich die Ortskoordinaten anzeigen würde – anno 1995 dauerte das mehrere Minuten – und er schleunigst von hier fortkam.

Als er einen kurzen Blick über die Schulter warf, wurde ihm heiß und kalt. Der Datog-Mann war jetzt ins knietiefe Wasser zurückgewichen, sein Bogen und seine Pfeile lagen noch in Griffweite am Rand des Lochs. Keine vier Meter entfernt standen B. und G., zwei Männer vom Jäger-und-Sammler-Volk der Hadza, O’C onnells ortskundige Führer und Begleiter. Sie schrien den Datog an, ihre Waffen schussbereit in den Händen. Jetzt bedurfte es nur einer einzigen falschen Bewegung des Bedrohten, und statt Worten würden Pfeile fliegen.

Der Anthropologie-Professor und Archäologe von der University of Utah war schon seit Tagen mit B. und G. in der Steppe Nord-Tansanias unterwegs. Er wollte ethno-archäologisch interessante Stellen, wo er bei früheren Expeditionen zu den Hadza gewesen war, mithilfe des satellitengestützten GPS-Geräts nachträglich exakt positionieren. So auch das Wasserloch, in dessen Nähe er hockte – und wo sich gerade eine Tötung anbahnte.

Endlich: Auf dem Bildschirm erschien die geografische Länge und Breite. O’Connell speicherte hastig die Angabe, stand auf, hüstelte vernehmlich und entfernte sich langsam. B. und G. folgten ihm, während sie den Datog immer noch laut beschimpften. Dem US-Forscher fiel ein Stein vom Herzen. Keine mit Pfeilen gespickte Leiche trieb im Wasserloch.

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Die Datog sind Viehzüchter. Erst seit wenigen Jahrzehnten wandern sie in die Steppe südlich des Eyasi-Salzsees ein – ins Gebiet der nomadisch lebenden Hadza. Als O’Connell und seine Begleiter den Datog-Mann am Wasserloch trafen, war der gerade dabei, einen Brunnen für seine Herde zu graben. Das geschieht dutzendfach. Die Folgen: Wasser wird knapp, das Großwild – die Lebensgrundlage der Hadza – wandert ab.

O’Connell, der heute das Archaeological Center in Salt Lake City leitet, ist seit 1985 Zeuge des Geschehens in Tansania. Er kommentiert: „Da läuft ein Prozess, der aus der Ökologie als ,Konkurrenzausschluss‘ bekannt ist.” Zwei Arten können nicht auf Dauer dieselbe ökologische Nische besetzen, wenn sie sich in ihren Bedürfnissen zu ähnlich und auf dieselben, begrenzten Ressourcen angewiesen sind. Eine dieser beiden Arten wird aussterben.

„Das wird das Schicksal der Hadza sein – etwas, was sie selbst sehr klar kommen sehen”, sagt der Wissenschaftler. Ersetzt man „ Hadza” durch „Neandertaler” und „Datog” durch „anatomisch moderne Menschen” – könnte dieses Aussterbe-Drama ein anderes widerspiegeln, das 30 000 Jahre zurückliegt?

Im Juli 2004 wurde Jim O’Connell ins idyllische Blaubeuren gebeten, unweit von Ulm auf der Schwäbischen Alb. Dort befasste sich eine internationale Expertenrunde mit dem Verschwinden der Neandertaler. Zum Workshop „Neanderthals and Modern Humans Meet?” hatte der Veranstalter Nicholas Conard, Archäologie-Professor am Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Tübingen, auch den Forscher aus Salt Lake City eingeladen. Und O’Connell vertrat hier seine Hypothese: Das Verschwinden der Neandertaler war Verdrängung durch Konkurrenzausschluss.

Darf man den Fall Datog/Hadza mit dem Geschehen in Europa vor Zehntausenden von Jahren vergleichen? Bettina Beer, Privatdozentin am Institut für Ethnologie der Universität Heidelberg und Expertin für „Interethnische Beziehungen”, hält das für problematisch: „Alle Konflikte bei Jäger-Sammler-Völkern, von denen wir aus den letzten 100 Jahren wissen, fanden nicht untereinander statt, sondern beim Zusammentreffen mit Pflanzer- und Hirtenvölkern”, unterstreicht sie. „Das ist nicht mit der Altsteinzeit vergleichbar.”

Auch Jim O’Connell ist klar: Um Verdrängungsprozesse zwischen Jäger-Sammler-Völkern zu untersuchen, muss er ein Stück in die Menschheitsgeschichte zurück. Er stieß auf zwei Fälle, die er seinen Zuhörern in Blaubeuren vortrug.

• Fall Nummer eins: die Pama-Nyungan-Expansion. Archäologische Funde sowie genetische und linguistische Untersuchungen an heutigen australischen Ureinwohnern, den Aboriginees, zeigen: Vor etwa 6000 Jahren begann eine „Pama-Nyungan” sprechende Gruppe, sich über den Kontinent auszubreiten.

Die Menschengruppen, auf die sie trafen, verschwanden. Als europäische Entdecker ins Land kamen, waren bereits sieben Achtel Australiens von Jägern und Sammlern aus der Pama-Nyungan-Sprachfamilie besiedelt. Nur im äußersten Nordwesten lebten noch Vertreter anderer Sprachfamilien.

• Fall Nummer zwei: Die Expansion der Numisch-Sprecher in Nordamerika. Als die europäischen Einwanderer das Große Becken im Westen des Subkontinents erreichten, trafen sie dort auf indianische Völker mit sechs eng verwandten uto-aztekischen Sprachen, beispielsweise Schoschonen und Komantschen. Linguisten des 20. Jahrhunderts fassten diese Sprachen unter „Numisch” zusammen.

Die Numisch-Sprecher waren Jäger und Sammler und sind erst im Lauf der letzten rund 1500 Jahre ins Große Becken eingewandert. Archäologen und Genetiker haben nachgewiesen, dass sie die vor ihnen dort lebenden Menschen verdrängt haben – obwohl die Zuwanderer auf der gleichen Kulturstufe „Jäger und Sammler” standen wie die Alteingesessenen.

Was hatten die Pama-Nyungan- und die Numisch-Sprecher den anderen voraus? O’Connell: Auffällig ist in beiden Fällen das Know-how der Einwanderer, mehr Nahrungsquellen zu erschließen als die Alteingesessenen.

Mit dem Vordringen der Pama-Nyungan-Leute in Australien kamen plötzlich – wie Grabungen zeigten – zuvor ungenutzte Gras- und Baumsamen auf den Speiseplan, beispielsweise die Samen von Palmfarnen (Cycadeen). Diese Samen enthalten Cycasin und BMAA, zwei hoch toxische Substanzen, die sie ungenießbar machen. Es sei denn, man entgiftet das durch Reiben der Samen gewonnene Mehl durch mehrmaliges Wässern.

Tricks wie diese, um unter krass lebensfeindlichen Bedingungen zu überleben, beherrschten die Pama-Nyungan-Leute – ein Vorteil, der sich auszahlte, wenn die anderen, leichter verfügbaren Kalorienquellen wegfielen. Selbstverständlich haben die Zuwanderer ebenso wie die Alteingesessenen auch Kängurus gejagt, Früchte gepflückt und im Boden nach stärkehaltigen Knollen gegraben. Wenn freilich in Dürreperioden das Wild abwanderte und die letzten nahrhaften Knollen vertilgt waren, bedeutete das Not und Tod für die Alteingesessenen. Die Pama-Nyungan-Sprecher indes überlebten, während bei den Nachbarn – ohne dieses Know-how – in Notzeiten die kleinen Kinder starben, weil die Brüste ihrer Mütter keine Milch mehr gaben. Das expansive Volk besiedelte auch erstmals das wüstenhafte Innere Australiens. In Zonen, wo zuvor keine Menschen hatten überleben können, schlugen sich jetzt die Neulinge durch, vermehrten sich und breiteten sich in die Wohngebiete der Nachbarn aus. Im Großen Becken Nordamerikas sieht O’Connell eine identische Situation.

„Ein Volk, das mit neuen Ideen mehr Nahrungskalorien aus einem Land herausholen kann, wird die Alteingesessenen bald an Kopfzahl überflügeln”, sagt der US-Anthropologe. Und zählt auf, wo er Parallelen zum Fall Neandertaler sieht:

• Die Neandertaler und ihre anatomisch modernen Wettbewerber in Zentral- und Westeuropa hielten sich beide vorzugsweise in stark gegliedertem Hügelland mit Flusstälern und nahen Grasebenen auf, beispielsweise in den Ardennen und im Périgord in Südwestfrankreich.

• Neandertaler und anatomisch Moderne konkurrierten um dieselben Ressourcen an Großwild. Das haben 2002 die Archäologen Donald Grayson von der University of Washington und Françoise Delpech von der Universität Bordeaux anhand von 7200 Tierknochen und -zähnen aus Fundstätten nachgewiesen: Beide Menschenformen jagten in erster Linie die großen Pflanzenfresser des Graslandes, zum Beispiel Pferde. Einen Unterschied in den Jagdtechniken konnten die beiden Archäologen nicht ausmachen.

Dieselbe ökologische Nische, dieselben Hauptressourcen: Aus O’C onnells Sicht sind die klassischen Rahmenbedingungen für Konkurrenzausschluss gegeben.

Warum haben den nicht die Neandertaler gewonnen, sondern die anatomisch Modernen? Hier sieht der amerikanische Forscher wieder frappierende Parallelen zum Erfolg der Pama-Nyungan- und der Numisch-Expansion:

• Erstens: Ein breiteres Nahrungsspektrum der Neuankömmlinge. O’Connell verweist auf die Fundlage: Zwar jagten Neandertaler und anatomisch Moderne dasselbe Großwild. Aber an den Fundplätzen der Modernen sind seit etwa 32 000 Jahren vor heute immer mehr Knochen von kleinem Getier zu finden, etwa von Hasen und Rebhühnern. Es ist aufwendiger, auch dieser Beute nachzustellen – aber die Fangtechniken ausgefeilt zu haben, etwa durch Entwicklung von Fallen und Netzen, bietet einen Überlebensvorteil in Zeiten, wo das Großwild ausbleibt.

• Zweitens: Durch ihr breiteres Nahrungsspektrum und neue Jagdstrategien konnten die Zuwanderer auch in zuvor unbesiedelten Landstrichen Fuß fassen, beispielsweise in der von Neandertalern gemiedenen nordeuropäischen Tiefebene.

• Das Resultat aus beidem: steigende Kopfzahlen der Neuankömmlinge. Das kann bereits gereicht haben, um die Neandertaler ins Aus zu drängen.

Ansätze der Neandertaler, sich den Zuwanderern anzuschließen, mögen aus den gleichen Gründen gescheitert sein wie heute bei den Hadza: Schlossen sie sich den Neuen an, blieben sie verachtete Fremde ohne die Unterstützung der alten Gruppe. Versuchten sie jedoch, ihr gewohntes Leben weiterzuführen, brachte der Hunger sie um, weil die immer zahlreicheren Zuwanderer mit ihnen um das Großwild konkurrierten – dessen Jagd ihre Welt gewesen war. ■

Thorwald Ewe

Ohne Titel

· • Ein den Ökologen bekanntes Phänomen namens Konkur- renzausschluss könnte der Grund sein, warum die Neander- taler verschwanden.

· • Ihr breiteres Nahrungsspektrum dürfte den anatomisch modernen Menschen einen großen Vorteil verschafft haben.

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