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Kluge Köpfe auf der Krim

Geschichte|Archäologie

Kluge Köpfe auf der Krim
Im „Jahr des Neandertalers” 2006 wird immer noch heiß debattiert: Wie innovativ war diese lange verkannte Menschenart wirklich? Ein Forschungsprojekt auf der Krim lüftet den Schleier.

150 Jahre ist es jetzt her. Arbeiter eines Kalksteinbruchs im Neandertal, einer Waldschlucht beim nordrheinischen Städtchen Mettmann, räumten zur Vorbereitung einer Sprengung die Lehmschicht am Grund der Kleinen Feldhofer Grotte aus. Bei der Schinderei schaufelten die Männer auch einige Knochen frei. Der Lehrer und Naturforscher Johann Carl Fuhlrott, dem die Steinbruchbetreiber die Fossilien übergaben, urteilte: Dies müsse ein eiszeitlicher Mensch gewesen sein.

Mit dieser weitsichtigen Deutung waren die wenigsten von Fuhlrotts Zeitgenossen einverstanden. So hat der Fund im Neandertal seit 1856 im öffentlichen Bild eine nicht alltägliche Karriere hingelegt: vom rachitischen mongolischen Kosaken – einem vermeintlichen Versprengten der Napoleonischen Kriege – über einen nicht der Gattung Homo angehörenden Affenmenschen bis zum, immerhin, Homo neanderthalensis.

Aber Klischees sind langlebig. So hing dem „Neandertaler” aufgrund seiner gedrungenen Gestalt, des fliehenden Kinns und des Überaugenwulstes lange der Ruf an, zwar robust und überlebenstüchtig, aber ansonsten minderbemittelt gewesen zu sein. Archäologen und Anthropologen führen seit Jahrzehnten eine Offensive gegen diese Vorstellung. Denn die Funde an bearbeitetem Feuersteingerät zeugen längst von einem intelligenten Wesen.

Indes: wie intelligent – und wie innovativ? Zwar gibt es aus Fundstellen vor allem in Frankreich Hinweise, dass die Neandertaler auf die immer häufiger auftretenden mörderischen Klimaschwankungen ab etwa 38 000 Jahren vor heute, die Europas gesamte Säugetierwelt dezimierten, mit Werkzeug- und anderen Innovationen reagierten. Doch haben sie womöglich nur imitiert?

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Zu jener Zeit sickerten nämlich auch die ersten anatomisch modernen Menschen, die Vorfahren der heutigen Menschheit, nach Europa ein. So wurde der Subkontinent einige Tausend Jahre von nomadisierenden Gruppen beider Menschenarten bewohnt. Daher ist bislang chronisch unklar, in welcher Weise Neandertaler und anatomisch Moderner voneinander gelernt und einander beeinflusst haben könnten.

„Unser Projekt bot eine einmalige Chance, die Innovationsfähigkeit der Neandertaler zu testen”, sagt Thorsten Uthmeier. „Und die Ergebnisse haben unsere Erwartungen sogar übertroffen.” Der habilitierte Kölner Archäologe – derzeit an der Universität Frankfurt tätig – spricht vom Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Funktionale Variabilität im späten Mittelpaläolithikum der Halbinsel Krim, Ukraine”. Im Februar 2006 wurde das Forschungsvorhaben abgeschlossen.

„Die Krim war so etwas wie ein vom restlichen Europa abgetrenntes Freiluftlabor für Neandertaler”, erläutert Uthmeier das Besondere an dem Projekt. „Angesichts der Fundlage sind erst 30 000 Jahre vor heute anatomisch moderne Menschen auf die Halbinsel eingewandert – just als die Neandertaler verschwanden. In den Zehntausenden von Jahren davor haben sich die Neandertaler der Krim unbeeinflusst entwickelt: eine wundervolle Gelegenheit, vor Ort zu überprüfen, ob und wie gut sie sich durch Innovationen an den wachsenden klimatischen Stress anpassen konnten.”

Und – wie gut haben sich die stämmigen Vettern des anatomisch modernen Menschen geschlagen? Uthmeier bringt es auf den Punkt: „ Die späten Neandertaler auf der Krim, zwischen etwa 50 000 und 30 000 Jahren vor heute, waren den anatomisch modernen Menschen sowohl in punkto Gerätschaften als auch in der Art der Landnutzung absolut ebenbürtig.”

Für diese Erkenntnis hat sich der Aufwand gelohnt: Fünf Jahre lang grub ein 20-köpfiges Team der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften um Victor Chabai und Alexander Yevtuchenko an acht Neandertaler-Fundstellen im Süden der Krim, während sieben Kollegen von der Universität Köln um Jürgen Richter und Thorsten Uthmeier sich um die gefundenen Steingeräte sowie um die Art und Weise der Landnutzung dieser Menschengruppen kümmerten.

Die Kölner hatten sich speziell das Ziel gesetzt, die „ Einbettung der Neandertaler in die Landschaft” zu erkunden:

• Wie sahen ihre Bewegungsmuster zwischen den Lagerplätzen aus?

• Welche Werkzeuge nahmen sie auf ihre Streifzüge mit, welche stellten sie erst bei Bedarf vor Ort her?

• Aus welchen Tieren setzte sich ihre Jagdbeute zusammen?

Die ältesten Funde auf der Krim sind 120 000 Jahre alt. Damals herrschte in Europa eine ausgesprochene Warmphase (Eem-Interglazial). Deswegen waren die Wasserstände von Meer und Seen höher als in den kälteren Abschnitten – das Schwarze Meer war während der Kaltzeiten ein mit Gletscherschmelzwasser gefüllter Binnensee. Die Folge: Die Krim war pikanterweise eine Insel – sollten die Neandertaler zu diesem Zeitpunkt auf die Krim gekommen sein, hätten sie kurze Strecken über offenes Meer zurücklegen müssen.

Der Großteil der Fundstellen, die das zeitliche Spektrum von 125 000 bis 30 000 Jahren vor heute abdecken, zieht sich an der Flanke des Krim-Gebirges im Süden der heutigen Halbinsel entlang. Die Wohnplätze liegen stets am Fuß von Felswänden, wo die Gruppen von jeweils 15 bis 20 Neandertalern erstens vor Wind und Niederschlägen etwas geschützt waren und zweitens bei Sonnenschein von der Wärmespeicherung der Felswand profitierten.

Wie hat ein typischer Wohnplatz ausgesehen? Ein kleiner Wasserlauf war immer in der Nähe, damit man seinen Durst löschen konnte. Pure Spekulation ist, ob die Neandertaler Windschutz-Wände aus geflochtenen Ästen verwendeten, wie sie von vielen heutigen Jäger-Sammler-Ethnien bekannt sind – derlei organisches Material wäre längst verrottet. Auch ob die archäologisch nachgewiesenen Gruben an den Wohnplätzen – für Dinge des täglichen Bedarfs und/oder Lebensmittel – mit Blattwerk oder gar mit Tierhäuten ausgekleidet waren, ist nicht mehr feststellbar. Nachgewiesen ist indes, dass mehrere, nicht mit Steinen eingefasste Feuerstellen unterhalten wurden.

Sauberkeitsfanatiker unserer Tage hätten beim Betreten des Lagers mit den Augen gerollt. Nicht genug damit, dass überall Feuersteinsplitter von der Herstellung und Nachschärfung von Waffen und Werkzeug herumlagen – auch die Knochen sämtlicher Mahlzeiten, Haufen davon: Neandertaler ernährten sich zu 90 Prozent von Fleisch.

Zumindest im Sommer wird das Lager deshalb in eine summende Fliegenwolke gehüllt gewesen sein. Aber im Mittelpaläolithikum war es nun mal unüblich, Knochen und andere Abfälle aus dem Lager zu schaffen. Erst für die Gravettien-Kultur der anatomisch modernen Menschen, ab etwa 29 000 Jahren vor heute, sind Abfallgruben außerhalb der Wohnplätze belegt.

In anderer Hinsicht jedoch waren zumindest die Neandertaler, die am Kabazi-Berg südwestlich der Stadt Simferopol siedelten, überraschend modern – und das schon zwischen 70 000 und 40 000 Jahren vor heute. Die ukrainischen und deutschen Wissenschaftler durften sich dort über einen seltenen Glücksfall freuen. Sie entdeckten: Dieselben Menschengruppen, die die Fundstelle „Kabazi V” – oben am Berg, am Fuß einer steil aufragenden Felskrone – bewohnten, nutzten ein 500 Meter hangabwärts gelegenes Freilandlager („Kabazi II”) als separaten Tötungs- und Zerlegungsplatz.

Kabazi II, im Windschatten eines von der Felskrone abgebrochenen und den Hang heruntergerollten Kalksteinblocks, lag damals rund zehn Meter oberhalb der Alma. In der warmen Jahreszeit muss das Flüsschen eine viel besuchte Wasserstelle gewesen sein. Hier hatten sich die Leute von Kabazi darauf spezialisiert, Steppenesel-Familien (Equus hydruntinus) auf dem Weg zur Tränke zu erlegen.

Doch die Jäger trugen nicht etwa die kompletten Tiere an ihren Wohnplatz Kabazi V – wie es sonst bei den Menschen des Mittelpaläolithikums gang und gäbe war –, sondern brachten sie erst nach Kabazi II, um sie zu zerlegen. Wie die Knochenfunde in Kabazi V beweisen, trugen sie danach nur besonders fleischreiche Teile, beispielsweise Keulen und Lendenstücke, hoch ins Basislager zu den Daheimgebliebenen – den Rest der Jagdbeute überließen sie den Aasfressern. „Dieses Verhaltensmuster ist typisch jungpaläolithisch”, betont Uthmeier – also so, wie es bislang nur dem anatomisch modernen Menschen zuzutrauen war.

Außer fossilen Wildeselknochen fanden die Forscher in Kabazi V fast nur Überreste von Saiga-Antilopen (Saiga tatarica). Die Krimbewohner haben also keineswegs alles zu erlegen versucht, was ihnen vor die Feuersteinlanzen kam. Sie waren klug genug, nur Arten zu bejagen, bei denen sie bei maximaler Fleischmenge ihr Verletzungsrisiko auf praktisch Null minimierten – Esel sind keine Gegner, und die Saigas gingen selbst den gedrungenen Neandertalern nicht einmal bis zur Hüfte.

Aber flink sind die Saigas. Sie leben in der offenen Steppe in Herden bis zu 600 Tieren, sehen und riechen ausgezeichnet und beschleunigen im Nu auf 60 Kilometer pro Stunde. Um unter ihnen so reiche Beute zu machen, müssen die Neandertaler der Krim nicht nur körperlich, sondern auch intellektuell gut zu Fuß gewesen sein. Lange Jagdzüge über 20 bis 30 Kilometer Distanz waren dazu notwendig – und ein Höchstmaß an Vorwissen und planerischer Vorbereitung.

An der Fundstelle Buran Kaya, einem Freilandlager im einstigen Saiga-Revier, rekonstruierten die ukrainischen und deutschen Archäologen:

• Die Neandertaler müssen gewusst haben, dass die Saigas zum betreffenden Zeitpunkt in der Nähe von Buran Kaya grasen würden. „ Auf gut Glück” ist hier nichts zu machen: Die Antilopen sind sehr mobil und ziehen gelegentlich über Nacht 100 Kilometer weiter.

• Der Ort war mit Bedacht gewählt: ein Fluss als Anziehungspunkt für die durstigen Tiere, ein tief eingeschnittenes trichterförmiges Tal – ideal für einen Hinterhalt. • Die Neandertaler haben gezielt spezielle Feuersteinknollen zur Herstellung von Steinwerkzeugen auf den Jagdzug mitgenommen, die ausschließlich in 15 bis 20 Kilometer Entfernung zu finden sind, ferner in spezielle Halterungen aus Holz eingesetzte, flächig bearbeitete Feuersteinmesser zum Aufschneiden der Häute.

Zum Transport der Utensilien für einen Jagdzug könnten die Neandertaler lederne Beutel benutzt haben. Der Archäologe Genya Giria an der Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg, ein Spezialist für Gebrauchsspuren, hat etliche der Feuersteineinsätze untersucht und unter dem Mikroskop leichte Verrundungen an den Klingenkanten festgestellt. Aus vergleichenden Experimenten schließt er auf Kontakt mit Leder während Schrittbewegungen als Ursache.

Ab ungefähr 50 000 Jahren vor heute änderten die Leute von Kabazi die Technik ihrer Steingeräteherstellung: An die Stelle der flächig behauenen Feuersteineinsätze traten nun immer mehr feine Abschläge und Klingen – eine materialsparende Herstellungsweise. Die am Zerlegungsplatz Kabazi II produzierten rasiermesserscharfen Klingen sind derart standardisiert in Form und Größe, dass Archäologen ohne Kenntnis des Fundorts ohne Weiteres auf anatomisch moderne Menschen als Hersteller tippen würden. Geschäftet wurden diese modernen Klingen allerdings noch in mittelpaläolithischer Tradition.

„Das geschah bereits mehr als 10 000 Jahre, bevor die ersten anatomisch modernen Menschen am Fundort Syuren auf der Krim nachgewiesen sind”, resümiert Thorsten Uthmeier. „Das Bild ist eindeutig: Diese Neandertaler waren längst auf dem Sprung in die jungpaläolithische Moderne.” ■

Thorwald Ewe

Ohne Titel

• Die Krim war mindestens 90 000 Jahre lang von Neandertalern besiedelt.

• Ohne von anatomisch modernen Menschen beeinflusst zu sein, waren die Neandertaler der Spätzeit dort auf dem Weg in die Moderne.

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„Höchstens 0,1 Prozent”

Ein Dauerbrenner ist die Frage: Sind die Neandertaler vor knapp 30 000 Jahren sang- und klanglos ausgestorben oder durch Vermischung im Gen-Pool des anatomisch modernen Menschen aufgegangen? „Die genetischen Untersuchungen laufen weiter, aber das Bild bleibt gleich”– so lautet das Resümee von Ralf W. Schmitz, Neandertaler-Fachmann an der Universität Tübingen.

Und das Forschungs-Bild zeigt: Die bislang in mehreren Neandertaler-Individuen gefundenen DNA-Sequenzen aus Mitochondrien (mt-DNA) – das sind die winzigen Kraftwerke biologischer Zellen – sind so weit entfernt von den Sequenzen heutiger Menschen, dass man von zwei seit mindestens 500 000 Jahren getrennten Entwicklungslinien ausgehen muss: von separaten Menschenarten.

Da sich in der mt-DNA heutiger Menschen so gar keine Neandertaler-typischen Sequenzen finden lassen, lautet der Schluss: Die Vettern von Homo sapiens haben entweder gar nichts zu seinem Gen-Pool beigetragen oder bedeutungslos wenig. Forscher des Genome Quebec Innovation Center haben jetzt errechnet: maximal 0,1 Prozent.

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Mysteriöse Maske

„Das dürfte endlich die Behauptung, dass Neandertaler keine Kunst herstellten, als Lüge entlarven”, jubelte der britische Archäologe Paul Bahn. Und die Ausgräber Jean-Claude Marquet und Michel Lorblanchet erklärten: „Die ,Maske‘ gibt Grund zur Annahme, dass die Neandertaler zu viel fortgeschritteneren künstlerischen Zeugnissen fähig waren als bisher gedacht.”

Der Anlass zu so viel Begeisterung war ein Feuersteinbrocken, der im Schutt vor der Höhle von La Roche-Cotard nahe der französischen Kleinstadt Langeais zutage trat. Er war in eine Fundschicht aus dem Moustérien eingebettet, einer Neandertaler-Kultur der Mittleren Altsteinzeit, und wurde als mindestens 32 000 Jahre alt datiert. Das Besondere daran: Ein Knochensplitter war durch einen natürlichen Spalt im Feuerstein gesteckt und mit zwei Steinchen fest verkeilt worden.

Christian Züchner von der Universität Erlangen, der renommierteste deutsche Felskunst-Experte, kommentiert: „Ein Ein- zelfund, aus dem sich nichts Allgemeingültiges ableiten lässt.” Und: „Auch Nean- dertaler-Kinder haben sicher mit Dingen gespielt, die im Lager herumlagen.”

Zähne und Gene

Zeigt her eure Zähne

Bei Neudatierungen erwiesen sich kürzlich die spärlichen, in Höhlenfundstellen des Frühen Aurignacien (zirka 38 000 bis 33 000 Jahre vor heute) entdeckten Fossilien von anatomisch modernen Menschen als viel zu jung, um tatsächlich zu dem dort gefundenen fortschrittlichen Aurignacien-Gerät gehören zu können. Es waren Tote späterer Jahrtausende, die man in den Sedimenten dieser Höhlen begraben hatte.

So gerieten die zahlreichen Befürworter der These, das Aurignacien sei komplett von den anatomisch modernen Einwanderern getragen worden, plötzlich in Beweisnot: Ohne fossile Knochen schien keine Aussage mehr möglich, welcher Menschenart die Funde zuzuordnen waren. Gleichzeitig äußern einige Neandertaler-Experten immer nachdrücklicher: Die Vettern des Homo sapiens seien bereits eigenständig auf dem Sprung in die kulturelle Moderne gewesen, als die Vorfahren des modernen Menschen vor etwa 38 000 Jahren allmählich nach Europa einsickerten. War das Frühe Aurignacien mit seinen – gegenüber den Vorläufern – deutlich weiterentwickelten Werkzeugen etwa eine Neandertaler-Kultur?

In diesen Nebel über Alteuropa hat Shara Bailey helles Licht fallen lassen. Die amerikanische Archäologin arbeitete bis Ende 2005 am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig und ist seitdem Assistant Professor an der New York University.

Bailey hat umfangreiche Messungen an Zähnen von Neandertalern und anatomisch modernen Menschen angestellt und durch vergleichende statistische Analysen nachgewiesen: Zähne sind hervorragende Indikatoren für die beiden Menschenarten. Vor allem die so genannten zweiten Prämolaren im Unterkiefer, die beiderseits – Richtung Kinn gesehen – direkt vor dem ersten Backenzahn gelegenen Zähne, tragen auf ihren Kauflächen charakteristische Merkmale.

Das ist ein Riesenfortschritt. Zähne sind die mit Abstand dauerhaftesten Teile des menschlichen Organismus. Sie überstehen Umgebungsbedingungen, unter denen die meisten Knochen zerfallen. Nur galten sie bisher für die Zuweisung „Neandertaler oder anatomisch moderner Mensch” als meist nicht aussagekräftig genug.

Die Amerikanerin hat ihre Methode inzwischen an zwei Fundstellen erprobt: Erstens an Zähnen aus der Grotte du Renne im burgundischen Arcy-sur-Cure, aus einer Fundschicht der rätselhaften Châtelperron-Kultur (bild der wissenschaft 6/2005, „ Gestoppter Höhenflug”). Sie wurde bisher von den meisten Wissenschaftlern dem Neandertaler zugeschrieben, aber es blieb ein Rest an Unsicherheit. Bailey bestätigte: eindeutig Neandertaler-Zähne.

Ihr zweiter praktischer Einsatz galt der Fundstelle von Brassempouy in Südwestfrankreich. In einer 30 000 bis 34 000 Jahre alten Schicht waren dort, zusammen mit Steingerät aus dem so umstrittenen Frühen Aurignacien, etliche Zähne ans Licht gekommen. Shara Bailey und ihr Leipziger Ex-Chef Jean-Jacques Hublin urteilen nach ihrer Analyse: ein klarer Fall – anatomisch moderner Mensch. Was die Waagschale mit der Frage, wer denn der Träger des Frühen Aurignacien gewesen sei, wieder zur Seite des Homo sapiens neigt.

Mit der Zahnanalyse haben die Archäologen ein neues Werkzeug in ihrem Handwerkskasten. Und ein sehr wertvolles: Im Februar 2006 erhielt Shara Bailey den Tübinger Förderpreis für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie – den mit 5000 Euro höchst dotierten Preis dieser Art für Archäologen.

Neandertaler in 3D

Gerd-Christian Weniger sieht rosige Zeiten kommen. „Weltweit erhalten jetzt Wissenschaftler die Chance, sich den vollständigen Datenbestand zum Neandertaler auf den Schreibtisch zu holen”, freut sich der Direktor des Neanderthal Museums in Mettmann bei Düsseldorf. Er spricht von „Nespos”, ausgeschrieben: Neanderthal Studies’ Professional Online Service.

Für diese übers Internet zugängliche Wissenschaftsplattform, die seit März 2006 freigeschaltet ist, haben bereits seit zwei Jahren Fachleute begonnen, die über Universitäten und Museen verstreuten Knochen, Zähne und Werkzeuge als 3D-Datenmodelle zu digitalisieren. Sogar Fundstellen werden im Rechner nachgebaut. Interessierte Institutionen können sich in Nespos einmieten.

Vor allem bei einer großen, bislang offenen Frage hofft Weniger durch Nespos auf Antworten: „Wir wissen kaum etwas über die Variationsbreite der Neandertaler. Aber das waren Wesen, die während vieler Zehntausend Jahre über die große Region Eurasien verstreut waren, in ganz unterschiedlichen Klimaten und Lebensräumen. Je nach Umweltbedingungen und Epoche müssen sich die Populationen voneinander deutlich unterschieden haben.”

Dies systematisch zu untersuchen, ging bisher nicht – dazu müsste man sämtliche Fossilien und Werkzeuge in der Zusammenschau beurteilen können. Diese „einmalige Chance” biete sich jetzt, sagt der Museums-Chef. Nespos sei zudem eine Diskussionsplattform für Forscher, die sich über die Fundstücke miteinander online austauschen können. In spätestens fünf Jahren, vermutet Weniger, dürfte Nespos großen Wissenszuwachs erbracht haben.

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