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Krisen machen uns stark

Geschichte|Archäologie

Krisen machen uns stark
Können wir aus der Geschichte für die Zukunft lernen? Ja, sagt der Krisen- und Katastrophenhistoriker Gerrit J. Schenk. Aber das hängt vom richtigen Blickwinkel ab – und von unserer Lernbereitschaft.

bild der wissenschaft: Das Wort „Krise“ leitet sich vom griechischen „krisis“ ab, was Entscheidung bedeutet. Rühren Krisen demnach von menschlichen Fehlentscheidungen her?

Gerrit J. Schenk: Sicher, es gibt Krisen, die durch Fehlentscheidungen ausgelöst werden. Das ursprüngliche Wort „ krisis“ meint aber eine gerichtliche oder ärztliche Entscheidung. Etwa wenn das Fieber des Patienten einen kritischen Punkt, die „ krisis“, erreicht hat, dann entscheidet sich, ob er weiterlebt oder stirbt. Der Kern dieser Bedeutung hat sich erhalten. Krisen fordern von uns Entscheidungen, die sowohl ins Positive als auch ins Negative führen können. Doch wer eine Situation als Krise definiert, hat oft eine Lösung parat.

Krisen werden definiert?

Ja, sie werden sogar konstruiert. Zum Beispiel politische Krisen: Bisweilen inszenieren sie Politiker regelrecht. Von ihnen wird ja erwartet, dass sie Entscheidungen fällen. Herrschen Missstände, Unzufriedenheit oder Unruhen, deklarieren Politiker gern eine Krise und zeigen Lösungswege auf. Das hat Kalkül.

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War es so auch bei der Finanzkrise 2008?

Grundsätzlich kommt es darauf an, welchen Maßstab Sie anlegen. Nehmen Sie Ihr Einkommen: Von 2008 bis heute, haben Sie da eine Krise bemerkt? Sie müssen nicht antworten, aber ich nehme an, nein. Das wäre Ihr persönlicher Maßstab. Wir können allerdings auch eine volkswirtschaftliche Betrachtung vornehmen und feststellen: Das Wirtschaftswachstum stagnierte, mehrere Minusprozente pro Jahr wurden verzeichnet. Das sind Fakten, die für eine Krise sprechen. Oder bei einer Katastrophe: Es gibt Tote. Das ist eine Tatsache. Aber woran eine Gesellschaft leidet, hängt von ihrer kulturellen Prägung ab. Im Mittelalter befand man sich in der Krise, wenn das Seelenheil bedroht war. Freilich, eine Hungersnot mit vielen Toten war verheerend, aber ein gefährdetes Seelenheil war viel schlimmer. Das eine betraf „nur“ das zeitliche Leben, das andere das ewige. Was eine Krise ist, hängt vor allem von Standpunkt und Maßstab ab.

Wie unterscheiden sich Katastrophen und Krisen?

Anders als Krisen erscheinen Katastrophen auf den ersten Blick als etwas Plötzliches, Unvorhersehbares, Zerstörerisches. Wir können nichts dagegen tun, es bricht über uns herein, wir müssen reagieren. Doch strukturgeschichtlich sind sich Katastrophen und Krisen sehr ähnlich. Beide sind Prozesse und Wendepunkte zugleich. Beide haben eine Vorgeschichte. Etwa vernachlässigte Deichbauten an der Nordseeküste, die dazu führen, dass eine Siedlung von einer Sturmflut erfasst wird. Krisen und Katastrophen unterscheiden sich vor allem in der Wahrnehmung.

In der Geschichte gab es viele Wendepunkte, etwa den Untergang des Römischen Reichs, den Fall der Maya oder die Weltwirtschaftskrise 1929. Gibt es Faktoren, die sich stets wiederholen?

Es gilt auch hier zwischen Wahrnehmung und Deutung zu unterscheiden. Der Untergang der Maya wurde in der frühen Neuzeit sicher nicht als Krise oder Katastrophe bezeichnet. Aber bei einer Gesellschaft lösen Zeiten, in denen Prozesse enden oder sich wandeln, ähnliche Reaktionsmuster aus – durch alle Epochen hindurch. Bei einer Naturkatastrophe zum Beispiel: Als Erstes hilft man sich selbst und versucht dann, andere zu retten. Danach suchen die Menschen nach Vorzeichen, die man hätte erkennen müssen. Schließlich folgt die Frage: Wie bewältigt man das Erlebte? Das verläuft im Einzelfall recht unterschiedlich. Manche Kulturen verdrängen oder vergessen, andere erinnern daran. Wiederholen sich bestimmte Naturkatastrophen, passen sich Gesellschaften oft an. Viele Häuser in Japan waren früher aus Holz und Papier, also so leicht gebaut, dass sie flexibel reagieren konnten und es bei einem Erdbeben weniger Tote gab. Jede Kultur beschreitet ihre eigenen Wege zur Krisenbewältigung, aber alle haben gemeinsam, dass sie nach einem bestimmten Verfahren vorgehen.

Gibt es sonst noch kulturübergreifende Gemeinsamkeiten?

Ja. Bei Katastrophen sind es Angst und Schrecken. Bei Krisen wie auch Katastrophen ist es die Sinngebung. Dabei greift eine Gesellschaft auf ihre kulturspezifischen Deutungsmuster zurück und gibt den Ereignissen dadurch einen Sinn.

Nehmen wir zum Beispiel 9/11. Wie sah da der Prozess der Sinngebung aus?

Die Amerikaner haben die Anschläge mit dem Islamismus in Verbindung gebracht, als Anschläge gegen den „Westen“ verstanden und einen Krieg gegen den Terror erklärt. Diese Sinngebung hat den gesamten weiteren Verlauf der Weltgeschichte geprägt.

Welche Rolle spielen Leid und Emotionen?

Eine sehr große Rolle – wie immer, wenn es um Tod, Verwundung, Krankheit, Vertreibung geht. Das ist immer entsetzlich. Aber auch hier gilt: Menschen haben unterschiedliche Sinngebungs- und Trostkonzepte entwickelt. Zum Beispiel bei der Pest im Mittelalter. Zu jener Zeit hatte die medizinische Theorie der Antike noch Bestand, die besagte: Ein Ungleichgewicht der körperlichen Säfte macht krank. Der schlechte „humor“, eine schlechte Feuchtigkeit, muss demnach mit gutem „humor“ bekämpft werden. Fazit: Wir haben die Pest, lasst uns fröhlich sein. In Giovanni Boccaccios „Decamerone“ etwa feiern die Menschen Feste. Nicht weil er sie als emotional durchgeknallt darstellen wollte, sondern weil die schlechten Säfte aufgehoben werden sollten. Gefühle gehören zum Menschsein und somit zu Krisen dazu, aber wie sie sich kulturell äußern, das unterscheidet sich.

Nach der Krise ist vor der Krise. Sind wir inzwischen besser vorbereitet?

Nein, nicht wirklich (lacht). Zunächst ist es so: Bei jeder Katastrophe und jeder Krise gibt es Gewinner und Verlierer. In Europa ist es zurzeit so, dass die südlichen Länder wie Griechenland die Verlierer sind und wir in Deutschland die Gewinner. Aber aus dieser Krise kann auch etwas Positives entstehen, etwa eine Solidargemeinschaft. Wir opfern etwas, um den anderen zu helfen. Das kann uns widerstandsfähiger machen.

Aus jeder Krise entwickeln sich Chancen?

Natürlich, Krisen können eine Gemeinschaft zusammenschweißen, neue Institutionen hervorbringen. Aus dem Klassenkonflikt mit den Sozialdemokraten, den Bismarck meistern musste, ist 1883 die Sozialversicherung erwachsen. Psychologen beispielsweise raten dazu, Krisen nicht völlig schwarz zu sehen – ohne Krisen gibt es keine Entwicklung. Krisen machen uns stark. Ebenso sagen Biologen, dass in der Natur katastrophale Einschnitte evolutionär notwendig sind.

Was lernen wir denn aus Krisen konkret für die Zukunft?

Nun, obwohl uns bei weit zurückliegenden Epochen ein Bezug zu heute vielleicht absurd erscheint, können wir dennoch etwas lernen – und zwar auf einer abstrakten Ebene. Wir können Orientierungswissen generieren, jedoch kaum Handlungswissen.

Was heißt das genau?

Wir können nicht direkt aus der Geschichte lernen, weil sich Geschichte nicht wiederholt. Konkrete Handlungsanweisungen lassen sich nur selten formulieren. Zwei Beispiele sind die Weltwirtschaftskrise 1929 und die Finanzkrise 2008: Wir können nicht so reagieren wie damals, da wir in einer völlig anderen Welt leben. Es gab kein Internet, keinen Sozialstaat, weniger moderne Kommunikationsmittel. Es herrschen einfach nicht die Bedingungen eines naturwissenschaftlichen Experiments. Aber wir können Orientierungswissen gewinnen. Zum Beispiel: Eine Gesellschaft bleibt friedlicher, wenn sie partizipativ strukturiert ist – wenn die Menschen das Gefühl haben, teilzuhaben und nicht machtlos zu sein. Demokratien sind nach innen friedlicher, weil es weniger Möglichkeiten der Unterdrückung gibt. Das ist Orientierungswissen – es ist zwar abstrakt, aber anwendbar.

Nehmen wir einmal den Klimawandel. Welches Orientierungswissen liefert uns da die Historie?

Dass vergangene Gesellschaften sehr wohl mit einem veränderten Klima umgehen konnten. Freilich, zurzeit wandelt es sich sehr schnell, und das ist menschengemacht. Aber wir sollten optimistisch bleiben: Gesellschaften haben es schon immer geschafft, mit Katastrophen umzugehen. Dennoch müssen wir warnende Ereignisse ernst nehmen: Während der kleinen Eiszeit beispielsweise, etwa vom 14. bis ins 17. Jahrhundert, kam es zu Hexenverfolgungen als Reaktion auf schweren Hagel. Man warf den Frauen und Männern Wetterzauber vor. Dieser natürliche Klimawandel führte zu einer Verfolgung von Randgruppen. Das warnt uns vor der Suche nach einem Sündenbock. Das ist Orientierungswissen.

Handlungswissen lässt sich gar nicht generieren?

Doch. Etwa mithilfe der historischen Seismologie, Hydrologie und Meteorologie. Hier wird versucht, die Wetterlage und die Geologie der Vergangenheit zu rekonstruieren. Das ist äußerst nützlich. Nehmen Sie zum Beispiel den Neckar. Der Fluss wurde vielfach begradigt und zugebaut, aber das betrifft nur circa zehn Prozent des gesamten Abflussregimes. Ansonsten verläuft der Neckar wie vor 100 oder 500 Jahren. Steckt man die maximalen Hochwasserpegel der Vergangenheit ab, dann ergibt sich die Reichweite, bis wohin das Wasser steigen kann. Das ist für Stadtplaner wichtig. Was wäre zum Beispiel mit einem Chemiewerk, das in einer Zone mit einem 500- Jahres-Horizont entstehen soll – also dort, wo das Wasser einmal in 500 Jahren hingelangt? Versicherungen rechnen bisher mit Schadenshorizonten unter 100 Jahren. Mit dem Klimawandel wird sich das ändern. Ein bisheriges 100- oder 500-Jahres-Ereignis kann viel eher eintreten. Daraus ergibt sich die konkrete Handlungsanweisung: Bauen Sie dort besser nicht.

Ist es Ihre Aufgabe als Historiker, uns vor möglichen Katastrophen zu warnen?

Ich beschäftige mich vor allem mit dem Verhältnis von Natur und Gesellschaft zur Zeit des Mittelalters. Inwieweit das auch für die Gegenwart relevant ist, lässt sich im Einzelnen schwer bestimmen. Aber natürlich will ich auf Probleme hinweisen. Prognosen bringen es allerdings mit sich, sich nicht zu erfüllen. Die Zukunft ist offen. Dennoch müssen wir wachsam bleiben. Bestenfalls tritt die Voraussage nämlich deshalb nicht ein, weil man gewarnt hat. Denken Sie an die Diskussion um das Waldsterben in den 1980er-Jahren. Damals hieß es, um 2000 wird es keine Wälder mehr geben. Aber es gibt sie noch, weil die Regierungen die Warnungen ernst genommen und die Rauchgasentschwefelung per Gesetz verordnet haben. Dasselbe gilt für das Ozonloch: Es schließt sich. Weil FCKW verboten wurden.

2009 haben Sie geschrieben, dass „natürliche Extremereignisse auch erst durch menschliche Aktivitäten richtig gefährlich werden können, wenn zum Beispiel ein Sturm durch die Zerstörung einer industriellen Infrastruktur besondere Umweltverschmutzungen verursacht“. Unwei- gerlich denkt man an Fukushima 2011. Können Sie weissagen?

Nein, sicher nicht (lacht). Aber ich erinnere mich gut: Das war am 11. März 2011. Ich war auf einer Tagung. Der Tsunami brach über Japan herein und zwei Stunden später funkten mich Zeitungen an, um mich als Katastrophenforscher zu befragen. Wie ich den Tsunami einschätzen würde? Ich stotterte, ich sei Mediävist und kein Spezialist für Seismologie. Natürlich seien viele Tote zu erwarten, aber ehrlich gesagt solle man auch die Atomkraftwerke in Küstennähe beobachten. Da sprach noch keiner von Fukushima. Der Gedanke war ein Resultat meiner Forschungen mit Natech-Katastrophen, also durch Naturgefahren ausgelösten technischen Katastrophen. In unserer Kultur der Hochmoderne sind Technik und Natur so eng verschränkt, dass natürliche Katastrophen sofort auch technische Bereiche treffen – und alles noch schlimmer machen. Denken Sie an SARS, Vogelgrippe oder Ebola: Ohne den global vernetzten Flugverkehr wäre eine Epidemie wohl nicht so verheerend. Als es 2011 zur Katastrophe von Fukushima kam, war ich schockiert, aber nicht überrascht.

Wie lautet Ihre Prognose für die Zukunft?

Wir reichen Gesellschaften sind auf viele Katastrophen sehr gut vorbereitet. Aber durch High-Tech haben wir uns auch sehr verwundbar gemacht. Besonders gefährdet sind beispielsweise alle dicht besiedelten Küstenorte, wo sich Wirtschaftszentren und große industrielle Hafenanlagen befinden. Wenn durch den Klimawandel der Meeresspiegel steigen sollte, dann kommen wir in Bedrängnis. Am schlimmsten wird es allerdings die Schwellen- und unterentwickelten Länder treffen. Sie sind viel verwundbarer als wir. Und was haben wir bislang dagegen getan? Wir expandieren weiter. In der Arktis werden Ölbohrgebiete erschlossen und am Meeresboden des Indischen Ozeans Schürfrechte vergeben. Das ist gravierend. Denn eines ist sicher: Je mehr solcher Anlagen wir errichten, desto höher steigt die Wahrscheinlichkeit, dass uns auch tatsächlich eine Natech-Katastrophe trifft. •

Das Gespräch führte Karin Schlott

Gerrit J. Schenk

ist Professor für Mittelaltergeschichte an der TU Darmstadt. Der Mediävist (*1968) erforscht Krisen und Katastrophen der Menschheitsgeschichte. Im Rahmen des Exzellenzclusters „Asia and Europe“ der Universität Heidelberg leitet er die Projekte „ Cultures of Disaster“ und „Images of Disaster“. Seine Forschungsergebnisse sind in die Sonderausstellung „Von Atlantis bis heute“ der Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim eingeflossen, die noch bis zum 1. März 2015 geöffnet hat. Weitere Informationen zur Ausstelllung finden Sie auf www.rem-mannheim.de

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