Lucy hat keine Schulterblätter
Zu den bekanntesten Vertretern der Art Australopithecus afarensis zählt Lucy, ein 1974 in Äthiopien gefundenes, teilweise erhaltenes Skelett einer etwa 25 Jahre alten Frau. Von Lucys Schulterblatt liegen allerdings nur einige Splitter vor, weshalb die Frage nach der Funktion der Vorderextremitäten umstritten blieb. Green und Alemseged konnten jetzt das Schultergelenk eines dreijährigen Australopithecus-Mädchens untersuchen, das unter dem Namen Selam bekannt ist.
Der äthiopische Anthropologe Alemseged hatte das Skelett im Jahr 2000 in seiner Heimat entdeckt. Die Knochen waren allerdings von Sandstein umgeben, der in mühsamer Kleinarbeit entfernt werden musste. ?Da Schulterblätter dünn wie Papier sind, versteinern sie nur selten?, sagt Alemseged. ?Wenn man sie findet, dann fast immer nur als Bruchstücke.? Umso mehr freuten sich die beiden Forscher, diesmal ein intaktes Schulterblatt bergen zu können.
Kopfüber greifen statt mit hängenden Armen dahertrotten
Die Form des Gelenks zeigt den Forschern zufolge eindeutig, dass Australopithecus noch ein aktiver Kletterer war. Bei Menschen verändert sich die Anatomie des Schulterblattes im Laufe des Lebens, doch bei den Vormenschen blieb die Form bei Kindern und Erwachsenen gleich, wie die von Lucy und anderen erwachsenen Australopithecus-Skeletten erhaltenen Splitter belegen. Das deutet darauf hin, dass die Ähnlichkeit zu den Schulterknochen von Affen kein Relikt war. Das Schultergelenk hatte nach wie vor die Funktion, Über-Kopf-Bewegungen zu ermöglichen, wie sie beim Klettern nötig sind.
1,5 Millionen Jahre nach Lucy und Selam hatte das Schulterblatt dann eine grundlegende Transformation durchgemacht. Die Art Homo erectus, die vor 1,8 Millionen Jahren in Ostafrika lebte, besaß bereits ein typisch menschliches Schultergelenk. ?Diese Umgestaltung war vermutlich Teil der Geburt unserer eigenen Gattung Homo?, schreibt die Anthropologin Susan Larson von der Stony Brook University im US-Staat New York in einem Kommentar zur Studie. ?Das deutet darauf hin, dass die Frühmenschen immer mehr von Werkzeugen und Kultur abhängig wurden, um überleben zu können.?