Wenn in den kommenden Monaten viel von Martin Luther die Rede sein wird, dann kann kein Leser erwarten, dass dabei auch die Naturwissenschaften eine Rolle spielen. Das ist aber eigentlich schade. Denn in den Tagen des Thesenanschlags bildete sich ein neuer Blick auf das Größte aus, das die Menschen kennen: das Universum. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts war den Astronomen aufgefallen, was auch Luther in seinen Tischreden anmerkte und bemängelte: Sie waren nicht in der Lage, bestimmte Konjugationen von Planeten präzise vorherzusagen, wenn sie in dem Schema des Ptolemäus operierten, der die Erde im Mittelpunkt der Welt sah. Bald machte sich Kopernikus an die Arbeit, um die Sonne ins Zentrum und die Erde mit ihren Menschen näher an den Himmel, also näher bei den Göttern oder dem Gott zu platzieren.
Das war allerdings nur eine wesentliche Entwicklung der damaligen Zeit. Als Kopernikus an seinem Hauptwerk schrieb, das 1543 erschien, wurde in Rom der Orden der Jesuiten gegründet. Deren Mitglieder machten es sich unter anderem zur Aufgabe, die Ausbreitung des Protestantismus zu verhindern. Eine ihrer Ideen bestand darin, einen neuen und besseren Kalender aufzustellen – der wird heute noch benutzt und ist nach dem damaligen Papst als Gregorianischer Kalender bekannt. Er löste seinen julianischen Vorgänger ab – und sollte die Protestanten zwingen, die Tage nach einem katholischen System zu zählen.
Die Gefahr des unendlich Kleinen
Doch die Jesuiten witterten die Chance, noch einen Schritt weiter zu gehen. Damals hatten Mathematiker angefangen, sich einer merkwürdigen Größe zuzuwenden, die seit der Antike ihr Unwesen trieb. Heute wird sie als das Infinitesimale bezeichnet. Sie ermöglicht die moderne Mathematik mit all ihren Rechenkünsten. Das Infinitesimale meint etwas unendlich Kleines wie einen Punkt, der schon in den Tagen von Euklid die unbeantwortete Frage aufwarf, wie viele Punkte eine Linie hat.
Archimedes hatte infinitesimale Intervalle verwendet, um gekrümmte Flächen und gebogene Körper berechnen zu können, aber die meisten Mathematiker hatten sich dann doch mit den glatten Figuren der Geometrie Euklids begnügt – bis 1544 die Schriften des Archimedes übersetzt wurden, und das Infinitesimale eine Renaissance erlebte. Die Jesuiten reagierten entsetzt. Sie sahen in diesem unendlich kleinen Ding, das im Laufe der Berechnungen sogar gegen Null geht, also quasi zu verschwinden scheint, eine Bedrohung für die vertraute Geometrie, mit der im Grunde die Weltvermessung gemeint war.
Die Jesuiten dachten sogar, dass man versuchen müsse, ein Bollwerk gegen das Vordringen des unendlich Kleinen zu errichten. Und sie hofften tatsächlich, dass dann, wenn das Infinitesimale aufgehalten und aus dem Reich der Mathematik verbannt ist, auch der Protestantismus aus der Welt verschwinden und die katholische Kirche erneut ihre alte und ungebrochene Autorität gewinnen würde.
Das verdammte Kleinste
1560 wurde ein entsprechendes Collegio Romano gegründet, in dem die Jesuiten das Kleinste verdammten. Es zerstörte ihren Traum von einer vollkommen rationalen Welt mit strenger mathematischer Ordnung, die ihrerseits als Grundlage einer politischen und sozialen Ordnung dienen konnte. Ihr Plan, das Infinitesimale zu verdammen, ging allerdings nicht auf.
Heute ist das Infinitesimale aus der Mathematik und überhaupt der modernen Welt nicht mehr wegzudenken. Es ist sogar konstitutiv für die Gegenwart. Ausgelöst haben diesen Siegeszug der Philosoph Leibniz und der Physiker Newton, die eine Infinitesimalrechnung entwarfen und damit in der Lage waren, Bewegungen von Objekten genau berechnen zu können. Der Gag besteht darin, dass das Kleinste selbst in Bewegung sein muss, weshalb man es auch nicht zu fassen bekommt. Nur wenn das Infinitesimale sich auf die Null zu bewegt und so verschwindet, lässt sich die Welt mathematisch verstehen. Seit den Tagen Luthers ist die Welt in vieler Hinsicht in Bewegung. Dazu mussten die Menschen paradoxerweise am Allerkleinsten festhalten.