Mitnichten. Jetzt herrscht Eiszeit zwischen Genetikern und Neandertaler-Spezialisten aus der anthropologischen und archäologischen Ecke. Mal frostig, mal gelassen ziehen sich Erforscher und Fans des eiszeitlichen Überlebenskünstlers auf die Position zurück: Meßt doch, was ihr wollt – wir ignorieren es.
„Phantastische Leistung“, gratuliert beispielsweise der weltweit renommierte Anthropologe Prof. Milford Wolpoff aus Michigan den Münchnern. Und fügt hinzu: „Aber ich glaube es trotzdem nicht.“ „Ich kann mich zu den genetischen Ergebnissen fachlich nicht äußern, aber archäologisch sind sie vollkommen unmöglich“, urteilt Prof. Gerhard Bosinski. Er ist Fachmann für den Neandertaler und Leiter des Neuwieder Museums für die Archäologie des Eiszeitalters.
Was die Wissenschaftler so schockiert, ist die vermeintliche Herabwürdigung eines jahrzehntelang Rufgeschädigten. Anfänglich für eine Art Tiermensch gehalten, hatte der Neandertaler jüngst endlich den Ruf eines tumben Toren abgestreift.
Wie Homo sapiens fertigte auch der grobknochige Eiszeitler ausgezeichnete Werkzeuge, Waffen und Hütten, kümmerte sich um verletzte Artgenossen und bestattete seine Toten mit Grabbeigaben. Wie kann er da lediglich entfernt verwandt sein? fragen die düpierten Anthropologen. „Er stand uns nahe“ zieht sich als didaktische Botschaft durch das „Neanderthal-Museum“ nahe Düsseldorf, mit 17,5 Millionen Mark Spendengeld erbaut und 1996 eröffnet.
Bevor die Paläogenetiker ihre Bombe platzen ließen, wollte Bosinski sogar beide Menschentypen in einer einzigen Art zusammenfassen. Jetzt sagt er: „Wenn sich das Resultat der Genetiker in weiteren Messungen – bei anderen Neandertalern und auch bei Homo-sapiens-Fossilien – bestätigen sollte, müssen wir es wohl akzeptieren. Aber vorerst können wir nur den Kopf schütteln und mit unserer Arbeit weitermachen.“
Haben die Münchner korrekt gemessen? Unter Molekulargenetikern ist die Sorgfalt von Pääbos Arbeitsgruppe unumstritten. So wurde von dieser Seite bislang kein Widerspruch laut. „Wir sind wohl selbst unsere schärfsten Kritiker“, schmunzelt Krings, als er erzählt, wie viele Tests und Überprüfungen sie unternahmen.
Krings untersuchte eine sogenannte hypervariable Region der Mitochon- drien-DNA mit 379 Basen – nicht mehr als 0,00001 Prozent des menschlichen Erbguts – und verglich sie mit der entsprechenden Sequenz von knapp 1000 Menschen aus aller Welt. Das Ergebnis war sensationell: „Alle heutigen Menschen – egal, ob aus Afrika, Europa, Australien oder Amerika – unterscheiden sich untereinander um durchschnittlich acht Basen. Der DNA-Abschnitt aus dem Neandertalerknochen dagegen differiert an 27 Stellen von dem unsrigen.“ Damit liegt die Neandertaler-DNA genau in der Mitte zwischen dem Homo sapiens und dem Schimpansen – der besitzt an 55 Stellen andere Buchstaben als der moderne Mensch.
Nach heutigem Wissen trennten sich die Entwicklungslinien von Mensch und Schimpanse vor etwa vier bis fünf Millionen Jahren. Krings‘ Resultat bedeutet nicht, daß Mensch und Neandertaler vor genau der Hälfte dieser Zeitspanne, also vor gut zwei Millionen Jahren, verschiedene Wege eingeschlagen hätten: „Man muß zahlreiche Korrekturen anbringen, da die DNA-Positionen unterschiedlich schnell mutieren und auch ein Mehrfachaustausch möglich ist“, sagt er. „So kommen wir auf einen gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Neandertaler, der vor 550000 bis 690000 Jahren existiert haben muß.“
Macht dies den glücklosen Eiszeitler für die Forschung weniger interessant? „Ganz im Gegenteil“, argumentiert Ralf Schmitz. „Da sich der Neandertaler kulturell so wenig von uns unterschied, ist die Frage um so wichtiger, warum er ausstarb.“ Daraus, so der Urgeschichtler, ließe sich sicher eine Menge für unser eigenes Überleben lernen. „Auch Dinosaurier“, fügt Schmitz hinzu, „sind schließlich nicht unsere Vorfahren. Und dennoch begeistert sich jedes Kind für sie.“