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Putsch gegen König Minos

Geschichte|Archäologie

Putsch gegen König Minos
Bisher gingen die Archäologen davon aus, dass das bronzezeitliche Kreta von Königen regiert wurde. Jetzt bringen neue Funde den Thron der vermeintlichen Herrscher ins Wanken.

In den Tagen des großen britischen Archäologen Sir Arthur J. Evans war die Welt von König Minos noch in Ordnung. Ab 1900 hatte Evans auf der griechischen Insel Kreta geforscht und dabei die älteste Hochkultur Europas entdeckt. Er nannte sie „minoisch” – zu Ehren des legendären Königs Minos, der in der griechischen Sage als Herrscher von Knossos und Kreta gilt. Zwischen 1950 und 1450 vor Christus hatte die Kultur auf Kreta bestanden. Als Beleg dafür holte Evans in Knossos eine eindrucksvolle Palastanlage ans Tageslicht und präsentierte wertvolle Schriftzeugnisse. Während der bronzezeitlichen Blüte, so glaubte Evans, hätten auf Kreta Priesterkönige regiert. Er schlug vor, ihnen den Titel „Minos” zu geben – eine allen Herrschern gemeinsame Bezeichnung, ähnlich dem ägyptischen „Pharao”.

Jetzt aber drohen die Priesterkönige vom Thron zu stürzen. Jan Driessen von der belgischen Universität Leuven und Yannis Hamilakis, Dozent im walisischen Lampeter, bezweifeln – wie auch andere, zumeist jüngere Kollegen –, dass vor gut dreieinhalb Jahrtausenden Könige auf Kreta herrschten. Sie glauben vielmehr, dass verschiedene Gruppierungen mit einem oder mehreren Anführern um die Macht im Land wetteiferten. Für die minoische Monarchie wäre das ein posthumer Staatsstreich.

Dabei hatte Pionier Evans ein so klares und scheinbar eindeutiges Bild der damaligen Gesellschaft gezeichnet. In seiner Vorstellung lebten die Minoer in unbefestigten Palästen, Landvillen und Städten – geschützt allein durch ihre Vorherrschaft auf See. Sie waren nicht nur friedfertig, sondern auch schöngeistig – sie liebten Kunst und Natur. Bäder und Toiletten, die zu Evans Zeiten in Europa noch nicht lange und noch nicht für jeden selbstverständlich waren, dokumentierten ihre feine Lebensart. Frauen spielten in Religion und Gesellschaft eine wichtige Rolle.

Doch so idyllisch, wie Evans sich das bronzezeitliche Dasein auf Kreta vorstellte, war es nicht. Bereits zu seiner Zeit kamen auf der Insel Wehrbauten zum Vorschein, die aber von vielen Forschern geflissentlich übersehen wurden.

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Nicht ignorieren ließen sich hingegen spätere Entdeckungen: In der Stadt Anemospilia nahe Knossos wurde unter den Trümmern eines Heiligtums ein Menschenopfer entdeckt. Ein junger Mann war auf einem flachen, rechteckigen Altar gefesselt worden, eine Bronzewaffe lag quer über seiner Brust. Noch grausiger waren die Funde im Keller eines Hauses in Knossos: Dort wurden vier Kinder entdeckt, deren Knochen auffällige Schnittspuren aufwiesen. Augenscheinlich war das Fleisch abgeschabt und, nach Auffassung der Ausgräber, danach vielleicht sogar gekocht worden – ein Hinweis auf kultischen Kannibalismus.

Auch wenn diese Entdeckungen schon lange am schönen Schein des minoischen Kreta kratzten, die Herrschaft der Priesterkönige hatte bislang niemand angezweifelt. Warum auch? Evans These von einer minoischen Monarchie schien gut belegt. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts freigelegten Paläste – unter anderem jene in Knossos, Mallia und Phaistos – wurden als Herrschaftssitze interpretiert. Das bronzezeitliche Politgeschehen wurde von den Archäologen bisher folgendermaßen beschrieben:

In der „Zeit der alten Paläste” zwischen 1950 und 1700 vor Christus bildeten die Paläste das Zentrum einzelner Königreiche, die unabhängig nebeneinander existierten. Im Laufe der Jahre gelang es Knossos, immer mehr Macht und Reichtum zu bündeln. Die um 1700 vor Christus beginnende Neupalastzeit brachte – so die bislang gängige Auffassung – das Ende der Autonomie von Phaistos und Mallia. Aus unabhängigen Herrschern wurden Vasallenfürsten von Knossos, das die politische und vielleicht auch die religiöse Vorherrschaft im Land übernahm.

Seltsamerweise wurde, wie jüngere Funde nahe legen, das neue Zeitalter von einem regelrechten Palast-Bauboom begleitet. Im Osten der Insel entstand der seit den Sechzigerjahren bekannte Palast von Zakros, und im nahe gelegenen Palaikastro wird ein ähnlicher Prachtbau vermutet. Auf der gegenüberliegenden Seite der Insel, im Westen, häufen sich die Anzeichen für einen minoischen Palast unter der heutigen Stadt Chania.

Überraschenderweise gibt es keinen respektvollen Abstand zu den alten Zentren. In der Inselmitte liegt gerade einmal sieben Kilometer von Knossos unter dem modernen Ort Archanes ein verdächtiger Großbau, nur zehn Kilometer trennen den Palast von Galatas von Minos’ Haustür. Im Süden wird Phaistos von Agia Triadha und Kommos bedrängt. Auch die Funde in Gournia und Makrigialos werden immer häufiger als Palastanlagen interpretiert.

Gerade diese Fülle an Prunkbauten – die die minoische Monarchie bislang untermauerten – bringt Evans Jünger in Erklärungsnot. Denn: Es gibt wohl eine Menge Paläste, doch es fehlen die Könige. Sie existieren zwar in der Vorstellung vieler Forscher, im archäologischen Fundus aber sind sie auffällig unauffällig. Nach monumentalen Königsgräbern und prachtvollen Grabbeigaben, wie man sie aus anderen Kulturen kennt, sucht man vergeblich. Kretische Wandmalereien zeigen weder König noch Königin. Auch fehlen Jagd-, Schlacht- und Triumphszenen, die die Macht eines Herrschers propagieren.

Und, besonders seltsam: Im Zentrum der vermeintlichen Paläste lagen nicht, wie andernorts meist üblich, Thron- oder Audienzsäle. Vielmehr bildeten große Zentralhöfe den Mittelpunkt der Anlagen – wahrlich kein Platz für einen Herrscher, meinen Driessen und Hamilakis.

Doch die Königstreuen geben sich nicht so schnell geschlagen: „ Zeremonielle Räume, Heiligtümer, reiche Ausstattung und Luxusgegenstände sind Hinweise darauf, dass es sich um die Residenzen von Königen gehandelt hat”, argumentiert Alexandre Farnoux, Professor für Alte Geschichte in Paris. Die Antimonarchisten halten dagegen: Luxusgüter und Heiligtümer allein machen noch keine Königsresidenz. Ebenso könnten sie Tempel, Kirchen und Klöster zieren.

Angesichts dieser Unstimmigkeiten kommen Driessen und Hamilakis zum Schluss: Die Vorstellung eines minoischen Königtums ist ein Mythos der modernen Forschung. Vielmehr wähnen sie „ Faktionen” an der Macht. Der Begriff „Faktionen” bezeichnet soziale Gruppierungen, die sich aus Mitgliedern unterschiedlicher Gesellschaftsschichten zusammensetzen und von einem oder mehreren Anführern geleitet werden. „Das Hauptaugenmerk von Faktionen”, so Hamilakis, „ist der Konkurrenzkampf: Sie stützen sich auf denselben Einzugsbereich, konkurrieren um dieselben Ressourcen – und vor allem um ihre Anhängerschaft.”

Wie aber schafften es die Machthungrigen, die Bevölkerung für sich zu gewinnen? Schließlich kennen Faktionen – im Gegensatz zu den heutigen „Fraktionen” – keine „Faktionsdisziplin”. Kein Treueschwur und keine Sorge um die eigene Wiederwahl konnte eine dauerhafte Unterstützung erzwingen.

Driessen und Hamilakis glauben, eine Antwort gefunden zu haben. Danach gab es zur Mitgliederwerbung rituelle Feiern, zu denen die Massen in die Zentralhöfe der Paläste geladen wurden, wo man sie mit Wein bewirtete. Solche alkoholisch-rituellen Feste ähnelten modernen Parteiveranstaltungen mit Freibier im Festzelt. In Knossos wurde aller Wahrscheinlichkeit nach gefeiert, gebechert und gelacht – für viele Kretologen eine peinliche Vorstellung! Doch die Architektur der Prunkbauten legt einen solch frevelhaften Schluss nahe. Die Anlagen waren leicht zugänglich und auf einen großen Besucherstrom ausgerichtet: Stets gab es mehrere, normalerweise kurze Zugangswege zum Zentralhof. An die größeren Anlagen schlossen sich zudem weitflächige „ Westhöfe” an – offene Platzanlagen außerhalb der Palastmauern, die weiteren öffentlichen Raum für Versammlungen boten.

Auch die Fresken von Knossos, auf denen man vergeblich nach Königen sucht, zeigen mitunter wahre Menschenmassen. Die schematische Darstellung der einzelnen Figuren weist darauf hin, dass tatsächlich die Masse das Motiv war.

Durch die Einladung zum Fest wurden Abhängigkeiten geschaffen und die Bewirteten ihren Gastgebern verpflichtet. Doch es gab viele Paläste und entsprechend viele Gastgeber – wem sollte man sich anschließen, wessen Wein trinken, wessen Lied singen? Gut möglich, dass den Zuschlag bekam, wer das Beste und Meiste zu bieten hatte. Auffällig ist: Mit der Zahl der Paläste stieg im bronzezeitlichen Kreta auch die Zahl der Weinpressen sprunghaft an. Mehr als zwei Drittel dieser Geräte, die aus zwei Jahrtausenden kretischer Bronzezeit bekannt sind, waren allein in den 250 Jahren der Neupalastzeit in Betrieb.

Auch in den Palästen selbst gibt es Hinweise auf fröhliches Bechern. Tönerne Trinkgefäße – wegen ihrer Form von den Archäologen „konische Becher” genannt – gehörten zum Inventar minoischer Haushalte. Das Besondere an den Funden in den Palästen ist: Die Becher dort waren ungenau und billig gearbeitet. Sie könnten das antike Gegenstück zum modernen Pappbecher gewesen sein: einfach geformt, ästhetisch wertlos, massenhaft produziert. Musste hier ein hoher Bedarf schnell gedeckt werden, weil die Faktionen darum wetteiferten, mehr Leuten die Sinne zu vernebeln als die Konkurrenz?

Doch es ging sicher um mehr als ein feucht-fröhliches Beisammensein. So wurden in den Anlagen der Neupalastzeit Gruppen von konischen Bechern gefunden, sorgfältig geordnet hingestellt: in Reih und Glied oder kopfüber. Vielleicht wurden die Gelage mit feierlichem Ernst beendet.

Die Argumente der Faktionisten-Fraktion überzeugen. Sie können nicht nur den Mangel an minoischen Herrschern und die Funktion der riesigen Hofanlagen erklären. Sie helfen auch, das Problem der Grenzziehung zwischen den vermeintlichen Königreichen zu lösen, das den Monarchisten schon lange Kopfzerbrechen bereitet.

In den Siebzigerjahren hatten sich viele Wissenschaftler einfach mit dem Lineal ans Werk gemacht. Die einzelnen Paläste wurden durch Geraden miteinander verbunden, Mittelsenkrechte auf den Verbindungslinien komplettierten den Entwurf. Gebirge und Flüsse wurden dabei einfach ignoriert. So entstanden Vielecke um die einzelnen Zentren, die als Herrschaftsbezirke gedeutet wurden. Diese Interpretation war plausibel, solange man nur vier oder fünf Paläste kannte. Die vielen Neubauten und Funde der Neupalastzeit aber sprengten die politische Landkarte: Es fehlte einfach der Platz für so viele Herrschaftsbezirke.

Anders ist das Szenario, wenn man die Zentren, die sich um Knossos ballen, nicht als Regierungssitze, sondern als Versammlungsplätze von Faktionen deutet. Nicht Land, sondern Menschen wollten die einzelnen Gruppierungen unter ihre Kontrolle bringen, argumentieren Driessen und Hamilakis. Dabei scheinen sich Phaistos, Agia Triadha und Kommos in der südkretischen Mesara-Ebene im Laufe der Zeit als dominante Zentren abgelöst zu haben – möglicherweise ein Zeichen für das Auf und Ab einzelner Faktionen.

Doch nicht alle strittigen Punkte zwischen Faktionisten und Monarchisten sind beseitigt. Wie lässt sich beispielsweise erklären, dass Architektur und Keramik während der Neupalastzeit auf der gesamten Insel einheitlich gestaltet waren? Ein gemeinsames stilistisches Vokabular, erklären die Faktionisten, habe Vergleichbarkeit geschaffen und das Konkurrieren zwischen den Gruppierungen ermöglicht. Die „Knossozentristen” in der Evans’ schen Tradition überzeugt dies freilich nicht. Ihre Erklärung: Knossos gab nicht nur politisch den Ton an, sondern auch in Stilfragen.

Fest steht: Angesichts der vielen neuen Funde und der immer komplexeren Landkarte des minoischen Kreta bleiben die Jünger von Sir Arthur mehr und mehr Antworten schuldig. Und so kann der kanadische Evans-Biograf Sandy MacGillivray süffisant erklären: „ Wir wissen immer noch nicht, was Evans in Knossos eigentlich gefunden hat – selbst nach einem Jahrhundert intensiver archäologischer Forschung.” ■

Ulrich Thaler, Mitarbeiter am Deutschen Archäologischen Institut in Athen, verfolgt die „Demokratisierungsbewegung” bei den minoischen Nachbarn mit großem Interesse.

Ulrich Thaler

Ohne Titel

• Der Archäologe Arthur Evans malte vor 100 Jahren ein idyllisches Bild des minoischen Kreta, das von Königen beherrscht wurde.

• Mittlerweile sind manche Forscher davon überzeugt, dass die minoischen Paläste keine Königssitze, sondern riesige Versammlungszentren waren.

• Mit feucht-fröhlichen Festen buhlten die verschiedenen Gruppen offenbar um Anhänger.

COMMUNITY LESEN

Jan Driessen u.a. (Hrsg.)

MOMUMENTS OF MINOS

Rethinking the Minoan Palaces

Konferenzband

Eisenbrauns Liege 2002, $ 130,–

INTERNET

Informationen und Bilder zur minoischen Archäologie:

www.ancient-greece.org/archaeology/ minoan-archa.html

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