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Schätze aus dem Eis

Erde|Umwelt Geschichte|Archäologie

Schätze aus dem Eis
Warme Sommer, milde Winter – weltweit schmelzen Eismassen ab und geben zum Teil jahrtausendealte Objekte frei. Archäologen bergen ausgezeichnet konservierte Holzpfeile, Bögen und Kleidungsstücke, die anderswo längst zerfallen wären.

Ende Mai, 20 Grad, zarte Sonnenstrahlen züngeln durch die Wolkenfetzen am Himmel. Es ist angenehm warm, doch für diese Jahreszeit sind es allemal fünf Grad zu viel. Lars Pilø protokolliert das frühsommerliche Wetter – wie jeden Tag, um an seiner Schneeprognose zu feilen. Klettern die Temperaturen weiter nach oben, werden wohl kaum Flocken in den Bergen fallen. Mehr noch: Die Wärme könnte bis zum Sommer kräftig an den alten Eis- und Schneeschichten nagen und einen Großteil davon abschmelzen. Es dürfte wieder ein arbeitsreiches Jahr für Pilø und sein Team werden.

Der Däne im norwegischen Lillehammer ist Gletscherarchäologe. Immer wenn es im August warm wird und sich kein verfrühter Wintereinbruch abzeichnet, rücken er und seine kleine Gruppe Archäologen und Klimaforscher aus. Es geht hinauf auf 1700 bis 2200 Meter Höhe und hinein in die schroffen Gebirgsketten von Jotunheimen in der Provinz Oppland. Dort, zwischen eisigen Gletschern und kargen Schotterflächen, suchen die Forscher nach Eisfeldern, aus denen die Sommerhitze seltene Objekte schmilzt: Pfeile, Bögen und Stöcke aus Holz, Kleidungsstücke, Lederschuhe oder auch nur Stofffetzen, Seilreste und Pfeilspitzen. „Wir finden so viel aus organischem Material. Das überrascht mich jedes Jahr aufs Neue“, staunt Lars Pilø. Was die Wissenschaftler vom Felsboden auflesen, wäre in den Tälern oder anderswo im Flachland längst verrottet. „Die Funde lagen aber bis zu 2000 oder 3000 Jahre im Eis.“ Und tiefgefroren haben sie sich erstaunlich gut erhalten.

Wo einst meterdick Eis aufragte, entdeckten die Forscher vor allem Holzpfeile von einstigen Rentierjagden. Viele davon sind komplett: Oft stecken noch Federn im Schaft, oder Tiersehnen halten Eisenspitze und Holz zusammen. „Normalerweise finden wir Pfeile in Gräbern – und dann nur noch eine verrostete Spitze, das war’s“, erklärt der Archäologe von der Bezirksbehörde Oppland. „ Durch die Funde aus dem Eis kennen wir jetzt technologische Details.“ So benutzte man seiner guten Belastbarkeit wegen zumeist Birkenholz für die Pfeilschäfte und ersetzte ab 400 n.Chr. die Geweihspitzen durch Eisenprojektile. Ab dem frühen Mittelalter fertigten die Bogenbauer dickere und steifere Pfeile an – weil die Kompositbögen kompakter konstruiert waren.

„Außerdem wissen wir mehr über Ausrüstung und Kleidung der Menschen“, fügt Pilø hinzu. Erst jüngst stießen die Archäologen am Lendbreen-Gletscher auf einen schmutzigbraunen Textilhaufen, der sich später unter den Fittichen der Restauratoren vom Osloer Kulturhistorischen Museum als 1700 Jahre alte Wolltunika entpuppte.

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Alt, älter, oppdal

Die Oppländer Forscher haben sogar noch Älteres aus dem Schmelzwasser gepickt: etwa einen Lederschuh aus der Zeit um 1400 v.Chr. und einen 700 Jahre jüngeren Schneeschuh. Am häufigsten sind es aber Objekte späteren Datums, aus dem 3. bis 6. Jahrhundert n.Chr. und aus der Wikingerzeit. Seit jeher verschlingt das norwegische Eis Gegenstände, die Jäger oder Hirten in den Bergen verloren oder weggeworfen haben, weil sie kaputt waren.

Etwas mehr als 100 Kilometer nördlich von Jotunheimen, unweit der Ortschaft Oppdal, sucht Martin Callanan, was vor Jahrtausenden im Schnee liegen blieb. Den Archäologen von der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität Trondheim hat es seit mehr als zehn Jahren in die Berge der Provinz Sød-Trøndelag verschlagen. Wie Pilø sucht er Holzpfeile und Bögen auf taunassen Felsen – mit großem Erfolg: „Wir haben Objekte aufgesammelt, die fast 5500 Jahre alt sind“, berichtet Callanan.

Während die Kollegen in Oppland bislang nichts finden konnten, was über die Bronzezeit hinausgeht, reichen die Oppdaler Eisfunde bis ins Neolithikum zurück. „Das könnte daran liegen, dass wir eine etwas andere Wetterlage haben und unsere Eisfelder etwas kleiner sind“, mutmaßt der Archäologe. Und noch etwas könnte eine Rolle spielen: Heimatforscher holen rund um Oppdal schon seit mehr als 80 Jahren Funde aus dem Eis.

Damals ließ sich das Alter der Stücke allerdings noch nicht so genau bestimmen. Alles, was man hatte, waren Pfeilspitzen aus Gräbern, die Archäologen Eisenspitzen gleicher Form aus den Gletschern zuordnen konnten. Heute verrät den Wissenschaftlern eine C14-Datierung, wann die Stücke einst gefertigt wurden. Einige davon sind Unikate – wie ein fast vollständiger Bogen aus Ulmenholz – und damit kaum zeitlich bestimmbar. Aus den eisenzeitlichen Funden in der Nähe schlossen die Forscher, dass die Fernwaffe irgendwann in die Zeit nach 500 v.Chr. gehört. „ Aber sie ist viel älter! Der Bogen entstand um 1300 v.Chr.“, freut sich Pilø. „Ohne die Radiokarbonmethode hätten wir das nie herausgefunden.“

verfallsdatum unbekannt

Aus der Fundlage allein lassen sich kaum brauchbare Informationen gewinnen. Die Eisflächen wuchsen und schrumpften über die vergangenen Jahrtausende, Schmelzwasser spülte Gegenstände fort, oder diese verrotteten, wenn sie länger unter freiem Himmel lagen. Wie lange die Holz- oder Lederobjekte an der Luft überdauern, weiß zwar keiner ganz genau. Doch einmal befreit vom Eis, beginnt ihre Uhr unaufhaltsam zu ticken. Ob sich die Funde überhaupt erhalten, hängt davon ab, in welche Art von Eis sie geraten.

Was in eine Gletscherspalte fällt, wird im Verlauf von zwei bis drei Jahrhunderten zerquetscht. Da am Gletscherboden „nur“ Temperaturen um den Gefrierpunkt herrschen, entsteht dort eine Wasserschicht, auf der sich das Eis behäbig talwärts schiebt – und alles zermalmt, was dem eisigen Riesen nicht widerstehen kann.

Aber was die norwegischen Archäologen vom Felsboden auflesen, lag lange in einem „Eisfleck“. „Das sind Eismassen, die sich nicht bewegen“, erklärt Pilø. „Deshalb bleiben die Funde unversehrt – wie in einem riesigen Gefrierschrank.“ Freilich spucken auch Gletscher einigermaßen intakte Objekte aus. Die römerzeitliche Wolltunika aus Lendbreen etwa lag in einem Gletscher, doch im Schutz einer Felsnase.

Dasselbe gilt für den wohl berühmtesten Eisfund: Ötzi. Die ungefähr 5300 Jahre alte Mumie vom Tisenjoch fanden Bergsteiger 1991 im Schmelzwasser einer tiefen Felsmulde. Jahrtausend um Jahrtausend hatte sich das Eis über den toten Steinzeitmann gewälzt, der in seinem Felsengrab schlummerte.

tunnel im toteis

Eisflecken geraten nicht in Bewegung, weil sie viel zu wenig Masse haben. Sie sind selten dicker als 15 oder 20 Meter, dabei zwei bis drei Grad kälter als ein Gletscher und am Felsboden festgefroren. Meistens bilden sie sich am Schattenhang eines Berges. „Aus diesem Grund tauen sie im Sommer nie völlig ab“, erklärt Atle Nesje von der Universität Bergen. Er ist der Gletscherforscher im Oppländer Schneefeldprojekt.

In Juvfonne, einem 20 Hektar großen Eisfleck in Jotunheimen, sind die Wissenschaftler dem frostigen Phänomen buchstäblich auf den Grund gegangen: Sie haben sich 70 Meter tief in das Toteis gegraben. Kleinste organische Partikel aus dem Inneren lieferten Radiokarbon- daten. „Das älteste Eis auf dem Grund“, berichtet Nesje, „ist etwa 6000 Jahre alt.“ Deshalb rechnen die Archäologen damit, über kurz oder lang ähnlich frühe Stücke zu bergen wie Callanan in Oppdal.

Die Arbeit der Gletscherarchäologen ist allerdings nicht ganz ungefährlich: geröllbedeckte Berghänge, über die bei wenigen Grad über Null ein scharfer Wind fegt und sich zu einem Schneesturm entwickeln kann. Deswegen sind die Forscher allesamt erfahrene Bergsteiger.

Angesichts der rauen Verhältnisse wundert es, was Menschen einst dort zu suchen hatten. Wie kommen die vielen Pfeile auf die Eisfelder? „Fast alle unsere Funde stehen mit der Rentierjagd in Verbindung“, erklärt Pilø. An heißen Sommertagen flüchten die Tiere aus den Tälern, um den lästigen Dasselfliegen zu entkommen. Die Insekten legen ihre Eier in das Fell der Paarhufer, und die geschlüpften Larven bohren sich unter die Haut. Die kühleren Eisfelder werden von den Fliegen jedoch gemieden.

Um die scheuen Rentiere hier auf kurze Distanz zu erlegen, nutzten die Weidmänner der Eisen- und Wikingerzeit eine raffinierte Taktik: Sie legten sich hinter Feldsteinmauern auf die Lauer, von denen es allein auf dem Jufvonne 60 Stück gab. Wenn die nicht genug Deckung boten, steckten die Jäger Reihen von hüfthohen Klapperstöcken in den Schnee, an denen Holzblättchen im Wind flatterten. Die Rentiere scheuten vor den Stöcken und liefen den lauernden Jägern geradewegs vor den Bogen. Solche Klappern haben Pilø und sein Team zu Hunderten geborgen.

die einen haben’s, die anderen nicht

Die Archäologen in Oppdal bringt das ins Grübeln. Denn sie haben bislang keinen einzigen solchen Stock gefunden. „Warum, wissen wir noch nicht“, sagt Martin Callanan. Vielleicht, so vermutet er, war entscheidend, ob die Eisflecken einer Gemeinschaft gehörten oder nur Einzelne ein Anrecht auf die Jagd dort hatten. „Aber noch ist das Spekulation“, sagt der Archäologe.

Alles in allem haben die norwegischen Wissenschaftler in Oppland bislang sagenhafte 1600 Fundstücke auf 40 Eisfeldern aufgespürt, in Oppdal kommen sie auf 234 Funde aus 27 Eisflecken, fast alle stammen aus den letzten Jahren. Der Startschuss fiel 2006, als der Sommer in Norwegen besonders heiß war. Gletscher und Eisfelder gerieten ins Schwitzen und schrumpften wie seit 2500 Jahren nicht mehr. Als immer mehr Bergsteiger die Landesarchäologen über alte Holzobjekte informierten, begannen diese das Gelände systematisch abzusuchen.

Auslöser: globale erwärmung

Dass die alten Eisflecken gerade jetzt so viele Funde preisgeben, kommt nicht von ungefähr. „Es hat mit dem Klimawandel zu tun“, sagt Gletscherforscher Nesje. „Und für den lassen sich nicht nur natürliche Klimaantriebe wie Sonnen- und Vulkanaktivität verantwortlich machen.“ Füttert man lediglich diese Daten in ein Klimamodell, müsste es kühler sein. Nimmt man anthropogene Ursachen wie Treibhausgase dazu, entsprechen die Modelle eher den tatsächlichen Bedingungen. Erst jüngst stellte ein internationales Forscherteam um Alex Gardner von der Clark University in Massachusetts fest, dass das Schmelzwasser aus Gletschern ein Drittel zum weltweiten Meeresspiegelanstieg beiträgt. Dabei speichern die Eisriesen nur ein Prozent der globalen Eismasse.

Die Folgen der Erderwärmung bekommen auch die Gletscher anderswo zu spüren. In den Alpen etwa überschritten im heißen Sommer 2003 Bergsteiger einen Pass auf 2750 Meter Höhe – das Schnidejoch in den Berner Alpen – und entdeckten unweit eines Eisflecks ein Futteral aus Birkenrinde. Das rief Albert Hafner von der Universität Bern auf den Plan, der damals für den Archäologischen Dienst des Kantons Bern tätig war. Von 2004 bis 2011 sammelten er und sein Team über 800 Objekte aus organischem Material ein – neben dem Futteral aus Birkenrinde auch einen vollständigen Holzbogen, dazu Pfeile, Schuhe und eine Leggins aus Ziegenleder, wie auch Ötzi eine trug. All diese Funde stammen aus der Zeit zwischen 2900 und 2700 v.Chr., sind also ungefähr 400 Jahre jünger als die Gletschermumie.

Das Eisfeld am Schnidejoch gab auch Reste frühbronzezeitlicher Leder- und Wollkleidung frei, dazu eine verschlissene Spanschachtel, Gewandnadeln sowie haufenweise römische Schuhnägel. Die Stücke lagen kreuz und quer auf dem feuchten Schotter. Über die Jahrhunderte warf man hier weg, was beim Weg über den Pass unbrauchbar geworden war. „Das neolithische Fundensemble deutet allerdings auf ein Unglück hin“, sagt Albert Hafner. „Am Berg verliert man weder seine Hose noch seine Schuhe oder den Bogen – dieses Equipment ist lebenswichtig.“ Vielleicht war der einstige Besitzer in einen Schneesturm geraten. Nach „ Schnidis“ Überresten suchten die Forscher aber bislang vergeblich.

in kalten zeiten unwegsam

Nicht nur die Vielzahl an Textil- und Holzfragmenten verblüffte die Schweizer Archäologen, sondern auch gerade das, was sie am Schnidejoch nicht fanden: Objekte aus der mittleren und späten Bronzezeit sowie aus der Zeit nach dem Frühmittelalter. Nichts aus den Jahren von 1500 bis 200 v.Chr., nichts nach 1000. „Doch als wir unsere C14-Daten mit Klimamodellen verglichen, stellten wir fest, dass der Pass in kälteren Perioden nicht zugänglich war“, erklärt Hafner. Dann schob sich nämlich eine Fußstunde talwärts der Chilchli-Gletscher über den Zuweg.

Den ältesten Fund vom Schnidejoch, eine kaputte Holzschüssel, datieren die Forscher um 4800 v.Chr. Sie legt Zeugnis davon ab, dass die Menschen schon 1500 Jahre vor Ötzi in hochalpinen Regionen umherstreiften. „Das waren keine mesolithischen Wildbeuter mehr, sondern sesshafte Bauern aus den Tälern“, betont Hafner. Ackerböden suchten sie da oben sicherlich nicht. Vielmehr geht der Archäologe davon aus, dass Wild Jäger in die Berge lockte, vor allem aber Hirten ihre Ziegen und Schafe über den Pass auf Sommerweiden trieben.

„Absolute Ausnahmen“

Regionale Pässe wie das Schnidejoch dürften die Alpenbewohner zuhauf überquert haben. Mit einem zweiten Schnidejoch rechnet Albert Hafner jedoch nicht: „Dieser Fundplatz und auch Ötzi sind absolute Ausnahmen.“ Anders als in Norwegen gibt es in den Alpen nur wenige Eisflecken. Im Nachbarkanton Wallis haben Forscher um den Archäologen Philippe Curdy vom Geschichtsmuseum in Sion dennoch versucht, neue Fundorte aufzuspüren. Mithilfe eines Geoinformationssystems suchten sie nach bislang unbekannten Pässen unter Eis. Der Computer spuckte sechs Routen aus. Doch an Ort und Stelle folgte Ernüchterung. Zwar fanden sich wenige rund 3000 Jahre alte amorphe Holzstücke, „aber unser theoretisches Modell arbeitete nicht genau genug – vor Ort war das Gelände oft viel zu unwegsam“, bedauert Curdy. Aus den Eisfunden leiten die Wissenschaftler ab, wie die Menschen der Stein-, Bronze- und Eisenzeit die unwirtliche Gebirgswelt Norwegens und der Schweiz erschlossen, sie als Jagdgrund und Viehweide nutzten.

Auch im hohen Norden Kanadas sind Gletscherarchäologen auf eisiger Spur. Seit 13 Jahren durchkämmt Thomas Andrews die Selwyn und Mackenzie Mountains in den Nordwestterritorien. Er sucht nach Eisfeldern, auf denen die Ureinwohner der subarktischen Region den Karibus nachstellten. Wie ihre Vettern in Norwegen nehmen die Herdentiere an heißen Sommertagen vor den Dasselfliegen Reißaus. Immer wieder finden die Archäologen um Andrews vom Prince of Wales Northern Heritage Centre in Yellowknife den einen oder anderen Pfeil – und kommen damit ihrem Ziel, die Lücken in der frühen Geschichte Nordkanadas zu schließen, ein Stück näher. Ihre Suche ist allerdings ziemlich müheselig, denn ihr Untersuchungsgebiet ist etwa so groß wie Griechenland.

Deshalb werteten die Forscher im Vorfeld Satellitenbilder aus und fahndeten nach Schneefeldern, aus denen reichlich schwarzer Karibudung herausgeschmolzen war, und sie dokumentierten die Wanderbewegungen der Herdentiere. Dennoch: Als sich die Archäologen mit dem Helikopter zu den entlegenen Berghängen aufmachten, stellten sich Dutzende Schneeflecken als Nieten heraus. „Wir mussten erst lernen, auf welchen Eisflecken sich die Jäger unbemerkt an die Karibus heranpirschen konnten“, berichtet Thomas Andrews. Entscheidende Hilfe kam von den Ältesten der Shútagot’ine.

uraltes wissen

Sie gehören zu den Ureinwohnern der Region. Bis in die 1960er-Jahre lebten die Shútagot’ine wie ihre Vorfahren als Jäger und Sammler in der Bergtundra. Von den Ältesten erfuhr Andrews, wo die traditionellen Pfade verliefen, wo sich saisonale Lagerplätze befanden – und welche Eisflecken sich für die Jagd eignen. Nämlich solche, die unterhalb begehbarer Bergkuppen liegen, damit man sich den Karibus von oben her unbemerkt nähern kann.

Einer der Ältesten, Leon Andrew, begleitet Andrews seither Jahr für Jahr auf die Schneefelder. Inzwischen konnten die Forscher auf neun Eisflecken sieben Pfeile, einen zerbrochenen Bogen und Reste von Tierfallen aufspüren, die bis zu 2500 Jahre alt sind. Nicht viel, möchte man meinen, aber: „Die Ureinwohner haben kaum sichtbare Spuren hinterlassen, sie bauten keine Dörfer und wanderten sehr weit umher“, erklärt Andrews.

Im Süden der Nachbarprovinz Yukon brachten es die Forscher immerhin auf 24 Schneeflecken und 207 Objekte. Hier leistet Gregory Hare vom Department of Tourism and Culture in Whitehorse seit den frühen 1990er-Jahren Pionierarbeit in Sachen Gletscherarchäologie. Es gelang ihm auch, rund 8000 Jahre „ Technologiegeschichte“ der nordkanadischen Ureinwohner aufzudröseln. Die machten ursprünglich mit bis zu zwei Meter langen Speeren, abgefeuert aus einer Speerschleuder, Jagd auf die Karibus.

Recht abrupt um 800 n.Chr. schwenkten die Wildbeuter dann auf Pfeil und Bogen um. „Das Frappante ist“, sagt Andrews, „dass sich dieser Wandel bald nach einem verheerenden Vulkanausbruch an der Grenze zwischen Yukon und Alaska vollzog.“ Die kanadischen Archäologen vermuten, dass einige Stammesgruppen durch die Eruption gezwungen waren, in andere Gegenden zu ziehen. Dort kamen sie dann mit Gemeinschaften in Kontakt, die Pfeil und Bogen nutzten. „Die neue Technologie breitete sich rasend schnell in ganz Nordamerika aus“, sagt Andrews. „Uns war bisher nicht klar, dass sich die Menschen über solch weite Distanzen austauschten.“

Bauplan einer Springfalle

In den traditionellen Erzählungen der Shútagot’ine kommt diese Episode zwar nicht vor, doch ihr Wissen ist trotzdem wertvoll für Andrews. Da ist zum Beispiel die Sache mit der Springfalle: Als der Archäologe eine Tiersehne festgebunden an einer armlangen Weidenrute fand, wusste er nicht, was das sein soll. Das begriff er erst, als er am selben Tag ein Shútagot’ine-Lager besuchte, wo die Ältesten den Kindern traditionelle Jagdtechniken beibrachten. „Dort hingen überall tote Erdhörnchen an Springfallen“, berichtet Andrews. „Und die Fallen sahen genauso aus wie das 1000 Jahre alte Stöckchen, das wir im Eisfeld gefunden hatten.“ ■

bdw-Redakteurin KARIN SCHLOTT hat großen Respekt vor den Gletscherarchäologen. Die Arbeit in den Bergen ist nichts für Unerfahrene.

von Karin Schlott

Kompakt

· Durch die globale Erwärmung schwinden die eisigen Gefilde Skandinaviens, Nordamerikas und der Alpen – in dramatischem Tempo.

· Archäologen suchen die schmelzenden Schneefelder ab und spüren Artefakte aus organischem Material auf, die im Eis kein Stück gealtert sind.

· Objekte wie jahrhundertealte Holzpfeile und Bögen geben den Forschern Aufschluss über technologische Entwicklungen.

Mehr zum Thema

Lesen

Thomas D. Andrews, Glen MacKay (Hrsg.) The Archaeology and Paleoecology of Alpine Ice Patches A Global Perspective Arctic – Journal of the Institute of North America 65, Supplement 1, 2012

Albert Zink Die Welt der Mumien Von Ötzi bis Lenin Verlag Philipp von Zabern Darmstadt/Mainz 2012, € 39,99

Internet

Der Eistunnel in Juvfonne: mimisbrunnr.no

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