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Schifter macht Jazz

Die Feldzüge des Germanicus

Schifter macht Jazz

Wien 1938. Ein fünfzehnjähriger Schüler, Günther Schifter, auf der Jagd nach Jazzplatten. Schallplattenläden gibt es genug, aber die schwarzen Scheiben sind teuer – und vor allem sind andere Musikrichtungen en vogue. Jazz, das ist „amerikanische“ Musik, die für die Hektik der modernen Welt steht, für „Asphaltkultur“, für eine technisierte Arbeitswelt. Schon von jeher von der kompakten Mehrheit der Musikkonsumenten scheel angesehen, ist Jazz jetzt, unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in Österreich, geradezu ein Feindbild: Musik ohne Heimatbezug, in einer fremden Sprache, ein Gegenbild zum Volkstümlichen, auch zur Tradition und zur ertüchtigenden, den Wehrwillen stärkenden Marschmusik. Weiß das der Heranwachsende nicht, der aus einer sehr bürgerlichen Familie stammt, dessen Vater allerdings den Nationalsozialisten missliebig ist? Es ist wohl weniger eine Frage des Wissens: die Jazz-Begeisterung des jungen Schifter ist vor allem Ausdruck bestimmter Interessen und Vorlieben, die für ihn im Vordergrund stehen und ihm weit wichtiger sind als der „Anschluss“. Junge Männer von der Art Schifters sind nicht nur fasziniert von dem, was viele damals als „Negermusik“ bezeichnen, sondern auch von moderner Technik, die sie transportiert – Radio, Grammophon – und von der weiten Welt, in die sie führt. Entsprechende Kürzel von heute wären Internet und MP3. In den dreißiger Jahren ist es die schwarze Scheibe, die verbindet – und trennt. Die Jazzgemeinde hat andere Bindungen und Gemeinschaftsgefühle als z. B. die singenden „Wandervögel“ und ihre immer militanteren und nationaleren Nachfolger. Weltoffener, nicht allein auf Österreich, Deutschland konzentriert: Amerika, das Land neuer Möglichkeiten und einer besseren Zukunft. Das sind Gefühle, die 1938 durchaus unerwünscht sind. Das ist dem jungen Günther Schifter schon klar, als er den Laden betritt, doch macht er sich wohl mehr Gedanken darüber, welche einschlägigen Platten sich hier finden lassen. Politisches Bewusstsein? Im Vordergrund eine Leidenschaft, im Hinterkopf sicher das lastende Wissen, dass sein Vater ein Verlierer des Machtwechsel ist, und allmählich die Erfahrung, auch selbst nicht konform zu sein. Während im ehemaligen Österreich ein großer „nationaler Aufbruch“ veranstaltet wird, gehen Günther Schifter und seinesgleichen hin und versuchen Jazzplatten aufzutreiben.

Wien 2006. Ein alter Sammler trifft Vorkehrungen für den Weiterbestand seiner Schätze: zehntausende Schellackplatten, vor allem mit Jazzaufnahmen; eine Sammlung, die in Jahrzehnten gewachsen und nun unbestreitbar „Kulturgut“ ist. Günther Schifter übergibt Teile davon der Österreichischen Mediathek und verfügt, dass das Übrige nach seinem Tod an dieses Institut kommt. Unter seinen Zeitgenossen – und auch in der Generation danach – ist er Legende: als jazzbegeisterter Radiomoderator und Sammler. Bemerkenswert dabei, dass er in sehr vielen seiner Sendungen – und auch im Gespräch – immer wieder Bezug nimmt auf die Situation und die Musik der späten dreißiger und der vierziger Jahre, auf die Jazz- und Schellackbegeisterung als Ventil, als Möglichkeit sich zu entziehen. Vielen Jüngeren ist das nicht mehr ganz zugänglich oder nur mehr als Nostalgie verständlich, hat sich doch das politische und kulturelle Umfeld seit 1945 gewandelt und ist die ehedem verfemte Musik längst im Mainstream angelangt und der nonkonformistische Außenseiter Schifter zu einer „Stütze der Gesellschaft“ geworden. Diese Verlaufskurve des Generationenzyklus ist recht typisch – und lässt sich mittlerweile wohl schon auf die „Vinylgeneration“ anwenden, die nostalgisch ihre Platten und Alben aus der Protestzeit der sechziger Jahre hegt – und mit der MP3-Generation wird es vermutlich ähnliche Wege haben.

Wien 2010. Zwei Jahre nach dem Ableben Günther Schifters erscheint der oben skizzierte Generationenverlauf unverändert spannend: wie man mit einem im wesentlich gleich bleibenden Musikgeschmack und einer auf das gleiche Ziel gerichteten Sammlerleidenschaft in recht unterschiedliche gesellschaftlich-kulturelle Lagen kommen kann – vom „Outcast“ zum Mann des Mainstreams und endlich zum Nostalgiker. Dies ist freilich eine extreme Zuspitzung, die nur verdeutlichen, nicht umfassend erklären soll. Tatsächlich ist Schifter als Radiomann mit der Zeit gegangen und hat moderne Unterhaltungstechnik sehr wohl angewendet – so erfolgten die Musikeinspielungen in seinen Sendungen in der Regel via Tonband und nicht von der Platte – und doch blieb sein Interesse der Wiedergabetechnik der dreißiger Jahre (und sogar der Zeit davor) zugewandt. Seine Sammlung von Phonographen und Grammophonen zeigt dies eindrucksvoll. Sowohl beim Sammeln von Schellack-Platten und von historischer Unterhaltungstechnik wie beim Musikgeschmack ist dabei Günther Schifter herausragender Vertreter einer ganzen „Spezies“ von Sammlern und Liebhabern gleicher oder ähnlicher Interessenslage und Beharrlichkeit – eine quantitativ kleine, sozial durchaus inhomogene und wenig lautstarke Bevölkerungsgruppe, die selten im Fokus historischen Interesses steht. Vielleicht stellt sich daher die Frage: Eine Ausstellung über einen Plattensammler und Radiomoderator? Das „Ja“ ist mehrfach motiviert: Durch die Inhalte selbst, denn es ist sinnvoll, die Sammlung und Tradierung von Kulturgut zu verfolgen, ihre technisch-kulturellen Voraussetzungen und ihren Nachhall: Der gefahrvolle Weg einer historischen Jazzaufnahme zum Beispiel, von der fragilen Schellackplatte in wechselnden Benützerhänden, bis sie über den selektierenden und vorsorgenden Sammler schließlich in einer öffentlichen Archivstelle landet – und via Datennetz in das neue Forum des Internet befördert wird. Der zweite Grund ist, wie angedeutet, das Nachdenken über die geänderte gesellschaftliche Wertschätzung von Musikstilen und Interessensgebieten. Ein weiterer sehr wichtiger Grund ist schließlich die schreckliche Sondersituation der mittleren Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, deren scharfes Licht Günther Schifters persönliches Lebensschicksal stark konturiert: eine Zeit, in der man durch das Anhören von Jazzmusik den Boden unter den Füßen, ja das Leben verlieren konnte.

Quelle: Rainer Hubert
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