Wie in einer mittelalterlichen Schreibstube wird zurzeit im Restaurierungszentrum der Bayerischen Schlösserverwaltung im Schloss Nymphenburg in München gearbeitet. Buchstabe für Buchstabe kopiert Papierrestaurator Jan Braun eine Doppelseite des berühmten Prunner Codex, einer der ältesten überlieferten Handschriften des mittelalterlichen Nibelungenlieds. Um ein möglichst authentisches Erscheinungsbild der Kopie zu erreichen, wurden im Vorfeld Farben und Schreibutensilien der mittelalterlichen Werkstatt genau analysiert. „Auf diese Weise haben wir ein überaus anschauliches Bild vom Herstellungsprozess des Prunner Codex gewonnen“, so Papierrestaurator Jan Braun.
Der Prunner Codex, der heute in der Bayerischen Staatsbibliothek verwahrt wird, gehört zu den wertvollsten Zeugnissen deutscher Literatur im Mittelalter. Darin überliefert ist die viertälteste Fassung des mittelhochdeutschen Nibelungenlieds. Die um 1330 entstandene Handschrift wurde von Wiguläus Hund, Geschichtsschreiber und Hofrat Herzog Albrechts V., nach 1566 auf der Burg Prunn entdeckt und in der Folge der Hofbibliothek in München, der späteren Bayerischen Staatsbibliothek, eingegliedert.
Nach dem Anspitzen der Feder, der Linierung des Pergaments und dem Auftragen des Blattgolds wird derzeit der einfarbige Fließtext niedergeschrieben. Dazu verwendeten die mittelalterlichen Schreiber eine schwarze, aus verkohlten Getreideresten hergestellte Rußtusche, deren Zusammensetzung Braun experimentell nachgeprüft hat. Gleiches gilt für die reichere Farbpalette der Initialen. Gebraucht wurden unterschiedliche mineralische, tierische und pflanzliche Pigmente, etwa für das helle Blau Färberwaid, eine bereits im Mittelalter eigens zur Farbgewinnung angebauten Pflanze, deren Farbstoff – Indigo – bis heute zum Färben von Jeans-Stoff dient.
Überraschend vielfältig waren die Materialien, die zur Rekonstruktion der mittelalterlichen Schreibutensilien besorgt werden mussten. In Brauns „Schreibstube“ lagern neben einem Eichhörnchenschwanz, die Borsten eines Stachelschweins und der Federkiel eines Raben. „Eichhörnchenhaare brauchen wir für besonders feine Pinsel, als deren Stiel in einem Malerhandbuch des 16. Jahrhunderts die Borsten von Stachelschweinen empfohlen werden. Der Rabenkiel ist für feine Kalligraphie geeigneter als die Gänsefeder“, erläutert Jan Braun.
Das Restaurierungszentrum der Bayerischen Schlösserverwaltung ist seit dem Jahr 2000 für alle Konservierungs- und Restaurierungsangelegenheiten in den 45 Schlössern, Burgen und Künstlerhäusern der Schlösserverwaltung verantwortlich. Es betreut sowohl denkmalgeschützte Bauwerke mit ihren einzigartigen Ausstattungen und Gartenskulpturen als auch weltweit herausragende Sammlungen von Schatzkunst, Keramik und Miniaturen.
Die rekonstruierten Schreibgeräte werden ab Ende März auf der Burg Prunn im Altmühltal neben der kopierten Doppelseite des Prunner Codex als Höhepunkt der neu eingerichteten Dauerausstellung „Burg Prunn und das Nibelungenlied“ zu sehen sein.