Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Studie: Religionspolitik verharrt in den Vorstellungen der 1950er Jahre

Geschichte|Archäologie

Studie: Religionspolitik verharrt in den Vorstellungen der 1950er Jahre
Buchcover „Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945“ (Foto: Vandenhoeck & Ruprecht)

Der renommierte Zeithistoriker Thomas Großbölting, seit 2009 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Westfälischen-Wilhelms Universität Münster, legt diese Woche mit seinem Buch „Der verlorene Himmel” die erste historische Gesamtschau zu Religion in Deutschland seit 1945 vor. Das Buch stellt wesentliche Ergebnisse des Projekts C22 am Exzellenzcluster „Transzendente Sinnstiftung und religiöse Vergemeinschaftung im nachmodernen Europa“ dar.

In seiner detailreichen Studie zeichnet der Historiker den religiösen Wandel in der alten BRD, der DDR und dem wiedervereinigten Deutschland nach. Er schlägt einen Bogen vom Ideal der Rechristianisierung nach 1945, über Konflikte um Sex, Familie und Autorität und die Kirchenkrise in den 1960er Jahren, die Pluralisierung ab den 1970er Jahren, den Sonderfall Ostdeutschland bis zum wachsenden Islam und dem Judentum in Deutschland. Der Wissenschaftler analysiert dabei insbesondere drei Faktoren: die praktizierte Religiosität, das Verhältnis von Religion und Gesellschaft und den innerkirchlichen Wandel etwa mit Blick auf Theologie und Kirchentage. Nach einem Konzept von Historiker Hans Günter Hockerts will er die Entwicklungen historisch als „Problemgeschichte der Gegenwart“ erschließen.

Nach Großbölting verharren Politik und Kirchen in Deutschland religionspolitisch in den 1950er Jahren. Die Kirchen würden nach damaligem Modell noch immer staatlich bevorzugt, obwohl eine Vielzahl an Religionen hinzugekommen sei. „Ein christliches Deutschland gibt es nicht mehr, die Zahl der religionspolitischen Konflikte wächst“, so der Forscher des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Universität Münster. „Doch Politik und Kirchen wagen keine aktive oder pro-aktive Religionspolitik. Vor allem der Islam stößt an eine ‚gläserne Decke‘“, heißt es in der Studie.

Beispiele für religionspolitische Konflikte gebe es in großer Zahl: die Diskussion um die Abweisung einer vergewaltigen Frau in zwei katholischen Kliniken, das Streikrecht für kirchliche Bedienstete, die Beschneidungsdebatte und die Koranverteilung durch Salafisten. „Politik und Kirchen unterschätzen den Handlungsbedarf notorisch. Sie nehmen Veränderungen erst wahr, wenn sie als Probleme auftreten.“ Eine weitsichtige Politik, die alle Religionsgemeinschaften gleich behandle, sei nicht in Sicht. „Stattdessen herrscht ein System der hinkenden Trennung von Kirche und Staat, das in der Nachkriegszeit entstanden ist“, so der Historiker. „Vieles davon hat sich bis heute erhalten: die Kirchensteuer, der Religionsunterricht an staatlichen Schulen oder der Sitz von Kirchenvertretern in Rundfunkgremien.“ Die Rechte und Ansprüche Andersgläubiger sowie der wachsenden Gruppe an Religionslosen hingegen fielen unter den Tisch.

Die christlichen Großkirchen profitieren nach Einschätzung des Forschers von ihrer Bevorzugung nur bedingt: „Kirchliches Leben ist heute hochgradig gesellschaftlich integriert, gut organisiert und oft auch politisch einflussreich – doch als religiöser Anbieter für viele Menschen unattraktiver denn je.“ So gehöre aktuell nur je ein Drittel der Bevölkerung noch einer der christlichen Kirchen an, um 1950 seien es noch 95 Prozent gewesen. Vor allem aber die Teilnahme der Mitglieder am kirchlichen Leben gehe kontinuierlich zurück. „Das Christentum ist zu einem Anbieter unter vielen für Sinnstiftung und Sonntagsgestaltung geworden.“ Diese neue Rolle wüssten die Kirchen noch nicht zu füllen.

Anzeige

Auch intern könnten sie mit Vielfalt nur schlecht umgehen. „Insbesondere die katholische Kirche hält weiterhin an einem historisch überkommenen Geschlossenheitsprinzip fest, das ihren Mitgliedern Freiheitsrechte verweigert.“ Davon zeugen nach Auffassung des Autors die Konflikte um die Kirche als Arbeitgeberin, wie sie sich beispielsweise mit der Kündigung einer lesbischen Erzieherin in einem kirchlichen Kindergarten oder eines wiederverheirateten Studienrats an einer kirchlichen Schule zeigten.

Begründet sei das „altbundesrepublikanische“ Kooperationsmuster zwischen Staat und Kirche im Grundgesetz von 1949, das wesentliche Bestimmungen der Weimarer Verfassung aufgenommen habe, so Prof. Großbölting. „Zu einer Zeit, in der die Gesellschaft dominant christlich geprägt war und man einen ideellen Neuanfang nach dem Nationalsozialismus suchte, funktionierte dieses Zusammenspiel für Politik und Kirchen hervorragend.“ In den 1950er Jahren hätten die Kirchen Idealbilder und Lebenspraxis für viele Felder wie Familie, Sexualität, Bildung, aber auch politische Entwürfe vorgegeben. „Was damals noch als moralische Wegmarke galt, war zwei Jahrzehnte später nur noch eine Position von vielen.“

In der zweiten Förderphase des Exzellenzclusters von 2012 bis 2017 leitet Großbölting das Projekt C2-8 „Neue Soziale Bewegungen und religiöse Sozialformen in der Nachmoderne: ein deutsch-nordamerikanischer Vergleich“.

Quelle: Westfälische-Wilhelms Universität Münster
Anzeige
DAMALS | Aktuelles Heft
Bildband DAMALS Galerie
Der Podcast zur Geschichte

Geschichten von Alexander dem Großen bis ins 21. Jahrhundert. 2x im Monat reden zwei Historiker über ein Thema aus der Geschichte. In Kooperation mit DAMALS - Das Magazin für Geschichte.
Hören Sie hier die aktuelle Episode:
 
Anzeige
Wissenschaftslexikon

Saug|fü|ßer  〈m. 3; Zool.〉 Angehöriger einer Familie der Doppelfüßer mit 44–101 Beinpaaren: Polyzonidae

Ly|ra  〈f.; –, Ly|ren; Mus.〉 1 altgrch. harfenartiges Zupfinstrument; Sy Leier … mehr

Brenn|stoff|zel|le  〈f. 19〉 Sonderform des galvan. Elements, kann mit Brennstoffen so gespeist werden, dass die freiwerdende chem. Energie vorwiegend in elektr. Energie umgewandelt wird, weshalb man von einer kalten Verbrennung spricht

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige