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„Versteckspiel“ in einem mittelalterlichen Tafelbild

Geschichte|Archäologie

„Versteckspiel“ in einem mittelalterlichen Tafelbild
Skizze
Monja Schünemann mit der Skizze. © Fotomontage: Jacob Müller; Quellen: Gemäldegalerie Berlin; Museum für schöne Künste Antwerpen, Infrarotreflektographie aus Katalog Gemäldegalerie Berlin, Petersberg 2017

In einer zweitteiligen Bildtafel aus dem Spätmittelalter hat eine Historikerin eine verborgene zweite Bedeutungsebene entdeckt. Klappt man das Jean Fouquets „Diptychon von Melun“ gedanklich zusammen, wird aus der klassischen Szene einer stillenden Madonna mit Jesuskind und zwei anbetenden Menschen eine Lactatio – die allegorische Darstellung der Madonna als nährender Mutter auch für die Gläubigen.

Das „Diptychon von Melun“ des französischen Buch- und Tafelmalers Jean Fouquet ist ein bekanntes Werk aus dem Spätmittelalter. Die beiden Bildtafeln entstanden um 1455 und hingen ursprünglich in der Gruft der Stiftskirche Notre-Dame in Melun. Dort waren sie als Andachtsbild über dem Grab des Auftraggebers Étienne Chevalier und seiner Frau angebracht. Chevalier war der Schatzmeister der französischen Könige Karl VII. und Ludwig XI.

Nachdem das mittelalterliche Diptychon Jahrhunderte lang in der Stiftkirche hing, wurde es 1775 entgegen den testamentarischen Wünschen Chevaliers von den Kirchenoberen verkauft, um Geld für die Restaurierung der Kirche zu beschaffen. Dabei wurden beide Teile des Bilds getrennt und tauchten erst nach der französischen Revolution wieder auf. Durch Weiterverkäufe gelangte die rechte Bildtafel schließlich ins Museum für schöne Künste in Antwerpen, die linke Tafel hängt heute in der Gemäldegalerie Berlin.

Geistesblitz beim Museumsbesuch

Diese räumliche Trennung der beiden Bildtafeln erschwerte es bisher, ihren Inhalt im Zusammenhang zu bewerten und zu betrachten. Zu sehen ist auf der linken Tafel der Auftraggeber des Diptychons, Étienne Chevalier, der neben seinem Namenspatron, dem heiligen Stephanus kniet. Die rechte Tafel zeigt die Madonna, die dem Jesuskind die Brust gibt, umgeben von mehreren Engeln. Doch neben dieser vordergründigen Darstellung hat die Historikerin Monja Schünemann von Technischen Universität Chemnitz eine weitere, bisher übersehene Bedeutung im Diptychon entdeckt.

Auslöser war die Überlegung, wie diese beiden ursprünglich durch ein Scharnier verbundenen Tafeln wohl zusammen aussehen würden. „Als ich beim Betrachten der linken Tafel über die Bildgestaltung des gesamten Diptychons intensiv nachdachte, traf mich ein Gedanke wie ein Blitz“, erinnert sich Schünemann. Noch am gleichen Tag fertigte sie von der in Antwerpen zu sehenden Tafel eine spiegelbildliche Skizze an und legte diese über die Tafel mit Étienne Chevalier und seinem Namenspatron. „Ich klappte sozusagen beide Tafeln zusammen“, so die Wissenschaftlerin.

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Zuklappen verändert die Bildaussage

Dieses skizzierte „Zusammenklappen“ offenbarte Überaschendes: „Dabei entdeckte ich ein bisher nicht wahrgenommenes Versteckspiel, das sich beim Betrachten des geöffneten Doppelbildes nicht offenbart“, berichtet Schünemann. „Erst wenn man den Klappeffekt der eigentlich durch ein Scharnier verbundenen Bildtafeln berücksichtigt, erschließen sich völlig neue Interpretationen davon, was Jean Fouquet vermutlich ebenfalls zum Ausdruck bringen wollte.“ Im so entstandenen „Sandwich-Bild“ kniet der Stifter Étienne Chevalier in den Falten des von Maria weit geöffneten Mantels und wird von ihr mystisch gestillt. „Das Schließen des Bildes veränderte die Bildaussage vollends“, erklärt Schünemann. „Die beiden Flügel des Diptychons werden so zu einer Lactatio, welches in der Ikonografie das Wunder der Nährung aus der Brust der Madonna bezeichnet.“

Diese versteckt eingearbeitete tiefere religiöse Bedeutung könnte auch erklären, warum der Maler die Köpfe von Étienne Chevalier und dem heiligen Stephanus auf der linken Tafel beim Malen nachträglich korrigierte. Fouquet wollte dadurch sicherstellen, dass sich beim Zusammenklappen des Diptychons bestimmte Bildpunkte exakt treffen. „Auch die Richtungen der Blicke der Engel auf der rechten Tafel erhalten nun einen bisher ungeahnten Sinn“, sagt Schünemann. Sie hat ihre Erkenntnisse in einem Blogeintrag ausführlicher beschrieben und einen Fachartikel zur Begutachtung eingereicht.

Quelle: Technische Universität Chemnitz

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