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Wechselvolle Ratten-Geschichte in Europa

Berühmt-berüchtigte Kulturfolger

Wechselvolle Ratten-Geschichte in Europa
Die einst so erfolgreiche Haustratte ist bei uns fast ganz von der Wanderratte verdrängt worden. © division, CSIRO

Eine tierische Karriere, die von Auf und Ab geprägt war: Forscher haben mittels genetischer Methoden Einblicke in die Ausbreitungsgeschichte der ursprünglich aus Südostasien stammenden Hausratte gewonnen. Demnach besiedelten die Nager Europa in zwei Wellen: Zunächst verbreiteten sie die Römer in ihrem Reich. Nach einem starken Populationseinbruch am Ende dieser Ära kam es dann zu einem Comeback im Mittelalter, als die Hausratte eine wichtige Rolle als Pest-Überträger spielte. Ab dem 18. Jahrhundert ging ihre Population dann durch die Ausbreitung der Wanderratte stark zurück, die sie heute bei uns fast vollständig verdrängt hat.

Vielen Tierarten hat der Mensch bekanntlich das Leben schwer gemacht, doch es gibt auch Gegenbeispiele. Als sogenannte Kulturfolger haben vor allem drei Nagetierarten enorm von der Zivilisation profitiert: Die Hausmaus (Mus musculus), die Wanderratte (Rattus norvegicus) und die Hausratte (Rattus rattus) haben sich an den menschlich geprägten Lebensraum mit seinem üppigen Nahrungsangebot angepasst und auch von unseren Transportsystemen profitiert. So konnten sich die drei invasiven Nager schließlich weltweit ausbreiten.

Im Fokus der Studie des internationalen Forscherteams um David Orton von der University of York stand nun speziell die Geschichte der Hausratte in Europa. In Deutschland gilt diese im Vergleich zur Wanderratte eher zierliche Art mittlerweile als vom Aussterben bedroht – doch bis zum 18. Jahrhundert war dies noch ganz anders: Damals erfüllte sie die Rolle, die heute ihre aus Nordostasien eingewanderte Cousine übernommen hat. Bei der Hausratte handelt es sich aber ebenfalls nicht um eine ursprünglich bei uns heimische Art: Sie stammte aus Südostasien, wurde dann aber unter anderem durch den Seeverkehr weit verbreitet. Dies hat ihr auch den alternativen Namen „Schiffsratte“ eingebracht.

Ratten durch Genetik auf der Spur

Um Hinweise auf die Entwicklungsgeschichte der Populationen der Hausratte in Europa zu gewinnen, haben Orton und seine Kollegen Spuren von Erbgut aus den Überresten von Hausratten untersucht, die bei archäologischen Ausgrabungen in Europa und Nordafrika gefunden wurden. Sie umfassen dabei den Zeitraum vom ersten bis zum 17. Jahrhundert. Durch Vergleiche der genetischen Merkmale ließen sich Rückschlüsse auf Veränderungen der Rattenpopulationen in diesem Zeitraum im Zusammenhang mit Entwicklungen der menschlichen Gesellschaft ziehen, erklären die Wissenschaftler.

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Wie sie berichten, belegen ihre Ergebnisse, dass die Hausratte Europa mindestens zweimal besiedelte: einmal zur Zeit der römischen Expansion, danach noch einmal im Mittelalter. „Wir konnten bestätigen, dass die Ausbreitung von Ratten mit menschlichen historischen Ereignissen zusammenhing, und konkret, dass die römische Expansion die Ratten nordwärts nach Europa gebracht hat“, sagt David Orton von der University of York. Das Besondere war dabei, dass es sich offenbar um eine ausgesprochen homogene Rattenpopulation gehandelt hat, wie aus den genetischen Vergleichen hervorging. „Alle unsere römischen Rattenknochen von England bis Serbien bilden genetisch gesehen eine einzige Gruppe“, sagt der Forscher.

Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches zeichnet sich dann in den archäologischen Nachweisen ein starker Rückgang beziehungsweise ein fast völliges Verschwinden der Ratten ab, berichten die Forscher. Ihnen zufolge hing dies wahrscheinlich mit dem Kollaps des römischen Wirtschaftssystems zusammen. Denn vermutlich waren die Ratten stark vom komplexen Getreidehandel und der entsprechenden Lagerung im Reich abhängig. Aber auch klimatische Veränderungen und die sogenannte Justinianische Pest im sechsten Jahrhundert könnten eine Rolle beim Niedergang der Populationen gespielt haben. Denn die Nager könnten den Erreger nicht nur übertragen haben, sondern ihm auch selbst erlegen sein.

Comeback und erneuter Niedergang

Doch im Mittelalter glückte den Nagern dann ein Comeback, berichten die Forscher. Als die Städte und der Fernhandel zu dieser Zeit wieder auflebten, kam es auch zu einer erneuten Ausbreitung der Hausratte. Die Nager werden dabei auch mit der Übertragung des Schwarzen Todes in Verbindung gebracht. Wie aus der Studie hervorgeht, waren die Rattenpopulationen des Mittelalters aber nicht aus einem Erstarken kleiner Restbestände in Europa hervorgegangen: Es zeichnet sich hingegen die Spur einer neu eingewanderten Rattengruppe ab: „Als die Ratten im Mittelalter wieder auftauchen, sehen wir eine völlig andere genetische Signatur – und auch in diesem Fall bilden alle unsere Proben von England über Ungarn bis Finnland eine einzige Gruppe. Einen deutlicheren Beweis für die wiederholte Besiedlung Europas hätten wir uns nicht wünschen können“, resümiert Orton.

Die Nachkommen des mittelalterlichen Comebacks prägten dann die Rattenpopulationen Europas bis zum 18. Jahrhundert, berichten die Forscher. Anschließend gingen ihre Bestände dann allerdings stark zurück. Offenbar wurden sie von der sich ausbreitenden Wanderratte verdrängt, die heute die dominierende Art im gemäßigten Klima Europas darstellt. „Die heutige Dominanz der Wanderrate hat die faszinierende Geschichte der Hausratte in Europa überblendet“, sagt Co-Autor Greger Larson von der University of Oxford. Seine Kollegin Alex Jamieson ergänzt dazu: „Die genetischen Signaturen der einstigen Hausratten zeigen nun aber auf, wie eng die Populationsdynamik dieser Tiere mit der des Menschen verbunden war“.

Wie die Erstautorin He Yu vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig abschließend hervorhebt, könnte die Studie sogar Hinweise auf die Migrationswege des Menschen in der Geschichte liefern. „Diese Studie ist ein großartiges Beispiel dafür, wie der genetische Hintergrund von Arten wie der Hausratte, die im Umkreis menschlicher Siedlungen leben, menschliche historische oder ökonomische Ereignisse widerspiegeln kann. Wir können noch viel von diesen häufig nicht für wichtig befundenen kleinen Tieren lernen“, sagt Yu.

Quelle: Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Fachartikel: Nature Communications, doi: 10.1038/s41467-022-30009-z

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