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Wem gehört Nofretete?

Geschichte|Archäologie

Wem gehört Nofretete?

Am 6. Dezember 1912 entdeckte der deutsche Archäo-loge Ludwig Borchardt bei Ausgrabungsarbeiten im mittelägyptischen Tell el-Amarna die Büste der Nofretete, zusammen mit einem großen Ensemble ungewöhnlicher altägyptischer Köpfe. Die Büste kam 1913 nach Berlin. Seit 1925 wird in schöner Regelmäßigkeit ihre Rückgabe gefordert, in den vergangenen Jahren mit zunehmender Vehemenz von Zahi Hawass, der von 2002 bis 2011 Generalsekretär der ägyptischen Altertümerverwaltung in Kairo war.

Über die genauen Umstände der Fundteilung ist vielfach spekuliert worden: War es ein Ganovenstück, ein Schwindel, eine niederträchtige Fälschung? Heute, nach nunmehr 80 Jahre andauernden Polemiken und Phantasmen, geht im schuldbereiten kollektiven Bewusstsein der Deutschen das dumpfe Gefühl um, die „bunte Königin“ müsse vielleicht tatsächlich restituiert werden.

Dass es sich bei dieser Af‧färe in erster Linie um eine erstaunliche Ausgeburt der deutsch-französischen Feindschaft während und nach dem Ersten Weltkrieg handelt, war der Öffentlichkeit bis vor kurzem nicht bewusst. Ein sensationeller Fund in einem Pariser Archiv wirft nun ein ganz neues Licht auf diese promi‧nente Affäre.

Sobald man sich ernsthaft daranmacht, den archivali‧schen Faden des vieldiskutierten Falls zu verfolgen, stellt man schnell fest, dass zumindest von Berlin aus die Wege der Recherche nicht nach Kairo, sondern zuerst und vor allem nach Frankreich führen. Dieser Tatbestand wird bis heute völlig unterschätzt.

Als nämlich der Kopf der Nofretete Ende 1912 von Borchardt entdeckt wurde, lag die Überwachung aller archäologischen Tätigkeiten in Ägypten in den Händen des sogenannten „Service des antiquités“, einer von Frankreich geleiteten Institution. Ägypten als autonome Staatsmacht existierte nicht. Seit 1882 war das Land unter britischer Herrschaft. Wenn man so will, gehörte das „alte Ägypten“ damals Frankreich, das „moderne“ dagegen England. Für Frankreich stellte die pharaonische Vergangenheit des Landes seit der Ex‧pedition von Napoléon Bonaparte im Jahr 1798 und der Entzifferung der Hieroglyphen durch Jean-François Champollion 1822 eine Art „geistiges Nationaleigentum“ dar. „Die archäologische Wissenschaft im Allgemeinen und die Ägyptologie im Besonderen stellen hier einen Teil unseres moralischen Erbes dar und bilden eines der Fundamente unseres Einflusses“, behauptete zum Beispiel ein französischer Generalkonsul in Kairo um 1900.

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Paradoxerweise bedeutete dieser Anspruch auf geistiges Eigentum nicht zwangsläufig auch einen Anspruch auf materiellen Besitz. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs war der französische „Service des antiquités“ recht liberal gesinnt. Das wissenschaftliche Credo ihres Generaldirektors, des großen Ägyptologen Gaston Maspero, war klar: Die verborgenen Schätze Ägyptens sollten möglichst schnell ans Tageslicht gebracht und ge‧sichert werden. Dafür sollten sich weltweit Ausgräber und Finanzierer bereit erklären, die hohen Kosten und Anstrengungen der Ausgrabungen zu tragen. Als Gegenleistung konnten sie unter Maspero fest damit rechnen, die große Mehrheit ihrer Funde in ihre jeweiligen Heimatländer und -museen schicken zu dürfen.

Maspero selbst schrieb einmal dazu: „Die seit 20 Jahren eingeführten Reformen im Bewässerungssystem haben der Landwirtschaft große Flächen zurückgegeben, die seit Jahrhunderten trocken waren: Dort ist reichlich Wasser in den Boden gebracht worden, das die Gegenstände, die dort eingeschlossen waren, tränkte. Wenn nicht innerhalb von 25 Jahren, die durch die moderne Industrie angegriffenen antiken Grabungsstellen gründlich erforscht worden sind, zögere ich nicht zu erklären, dass ihr gesamter Inhalt von Papyri, Bronzen, Statuen aus Stein oder aus Metall, Tonarbeiten, Stoffen, Utensilien, Waffen, Werkzeugen, Amuletten für die Wissenschaft verloren sein wird. Da es sich um Hunderte von Objekten handelt, wäre geradezu eine Massenrekrutierung von Gelehrten notwendig, um diese Aufgabe in einem so begrenzten Zeitraum zu bewältigen: Wir haben also an die Forschung appelliert, und ich bin glücklich, festzustellen, dass unsere Absicht verstanden worden ist“.

Unter Maspero vervielfältigte sich in der Tat die Zahl der in Ägypten tätigen Ausgräberteams aus der ganzen Welt. Tausende altägyptischer Objekte wanderten von Ägypten in die Museen Europas und Amerikas, darunter sensationelle Funde wie die ausge‧zeichnet erhaltene Paar-Statue von Mykerinos, dem Erbauer der dritten Pyramide von Giseh (seit 1911 in Boston), oder die inzwischen weltberühmte Statue des Hemiunu (seit 1912 in Hildesheim). Anfang 1913 stellte die Ausfuhr von Borchardts Amarna-Funden kein Problem für die französische Behörde dar. Sie genehmigte sie ganz offiziell und bewusst – davon zeugen unmissverständlich die neuaufgetauchten Dokumente.

Dann aber kam der Erste Weltkrieg. Der schon betagte Maspero hatte kurz zuvor Ägypten verlassen und lebte in Paris. Sein Nachfolger Pierre Lacau, der zu seinem großen Leidwesen nicht in Paris am Louvre, sondern in Kairo als Ägyptologe Karriere gemacht hatte, konnte zunächst seinen Posten nicht antreten. Die Mobilmachung erreichte ihn während seines Sommerurlaubs in Paris, einige Wochen später war er in der Nähe von Verdun stationiert.

Überraschenderweise betrübte ihn die Nachricht, dass er wegen der Mobilmachung die hochdotierte und angesehene Nachfolge Masperos zunächst nicht antreten konnte, überhaupt nicht. Er freute sich, in den Krieg zu ziehen – davon zeugen zahlreiche seiner Briefe –, und sah im Kampf gegen den deutschen Feind, gegen die boches, wie er schreibt, eine höhere Mission. Mehrmals weigerte er sich, vom Kriegsdienst befreit zu werden, um die Geschäfte in Kairo in die Hand zu nehmen.

Selbst Jahre nach dem Krieg, als er schließlich nach Kairo zurückgekehrt war, schrieb Lacau dazu: „Es ist mir absolut unmöglich, an eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit einem Deutschen, wer es auch sei, zu denken. Wir haben die Pflicht, uns zu erinnern. Eine schmerzhafte, doch notwendige Pflicht.“ Nachdem also die Scheußlichkeiten des Krieges auch in der gelehrten Welt tiefe Gräben gezogen hatten, bereute Pierre Lacau aufs bitterste die Entscheidung seines Vorgängers, der die Nofretete-Büste hatte nach Berlin gehen lassen. Und so forderte er von 1925 an die bedingungslose Restitution des legal freigegebenen Meisterwerks – und zwar aus „moralischen“ Gründen.

„Rechtlich gesehen sind wir wehrlos. Moralisch aber sind wir gerüstet und zwar in hohem Maße. Werden wir zu‧lassen, dass der Konzessions‧inhaber das moralische Recht hatte, gegen uns von unserem Fehler zu profitieren? Ganz bestimmt nicht“. Das war die Position, die Lacau jahrelang vertrat. Er machte die Rückgabe der Nofretete zur Be-dingung für die Erteilung weiterer Grabungsgenehmigungen in Ägypten, ja sogar für die Genehmigung kleiner Reparaturarbeiten am Deutschen Archäologischen Institut in Kairo.

Was sich hier hinter den (französischen) Kulissen abspielte, ist ein hässliches Beispiel für den „Krieg der Geister“, den sich Intellektuelle und Wissenschaftler in Frankreich und Deutschland während und nach dem Ersten Weltkrieg lieferten. Berlin weigerte sich verständlicherweise, eine solche Restitution zu gewährleisten. Ende der 1920er Jahre mäßigte Lacau seine Forderung und schlug nun einen Tausch vor – auf den Berlin fast eingegangen wäre, nicht zuletzt, um seinen Platz unter den ausgrabenden Nationen in Ägypten wieder zu sichern. Eine öffentliche Welle der Empörung brach in Berlin aus, als der Plan bekanntwurde. In letzter Minute wurde er vorläufig ad acta gelegt.

Wie ging die Geschichte weiter? Lacau wurde 1936 pensioniert und kehrte nach Paris zurück. Borchardt starb 1938 auf einer Reise in Paris und ließ sich in Kairo begraben. Nofretete blieb in Berlin. Über Generationen hinweg hat sich dieser Rest alter deutsch-französischer Feindschaft zu einer Altlast der Geschichte entwickelt, als eine Zumutung für alle, ob in Kairo oder Berlin, die sich heute mit der Frage einer möglichen oder unmöglichen Restitution des zur Weltikone avancierten Kopfs der Nofretete befassen.

Literatur: Bénédicte Savoy, Nofretete. Eine deutsch-französische Affäre 1912 –1931. Köln / Weimar / Wien 2011.

Quelle: Prof. Dr. Bénédicte Savoy, Technische Universität Berlin
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