Die bemerkenswerte Stabilität von DNA bildet die Grundlage aller Erkenntnisse über das Erbgut des Neandertalers: Es ist möglich, fossilen Überresten genetisches Material zu entlocken, das sich für Analysen eignet. Dadurch wurde letztlich die Rekonstruktion des Erbguts der Neandertaler möglich und damit Vergleiche zu heutigen Menschen. So stellte sich zunächst einmal heraus: „Wir sind ein bisschen Neandertaler“. Offenbar haben sich moderne Menschen mit ihren archaischen Cousins vermischt, als sie aus Afrika nach Europa einwanderten. Davon zeugen rund 2,5 Prozent Neandertaler-Erbe in heutigen Menschen außerhalb Schwarzafrikas.
Ein Nachkomme der Neandertaler
Dieses Ergebnis legte allerdings nahe, dass es nur zu eher wenigen Kreuzungen gekommen war. Doch die neusten Forschungsergebnisse scheinen dem nun zu widersprechen. Grundlage bildeten dabei genetische Informationen, die Forscher einem Fund aus einer Höhle in Rumänien entlockt haben. Der Unterkiefer gehörte einem anscheinend modernen Menschen, der Datierungen zufolge vor etwa 40.500 Jahren gelebt hat. Die genetischen Vergleiche zeigten: 6 bis 9,4 Prozent des Genoms dieses sogenannten „Oase-1-Mannes“ stammten von Neandertalern. Weitere Merkmale seines Erbgutes verdeutlichten, dass ihn nur vier bis sechs Generationen von seinen Neandertaler-Vorfahren trennten. Damit scheint klar: Es gab einst Mischlinge mit einem erheblich höheren Prozentsatz an Neandertaler-DNA im Genom als bei heutigen Menschen.
Gemetzel im Genom
Wie es zu dem Schwund gekommen sein könnte, legen weitere Studienergebnisse nahe, berichtet Thorwald Ewe, der Autor der Titelgeschichte in bild der wissenschaft. Zwar war ein kleiner Teil des bis heute bewahrten Neandertaler-Erbes für die modernen Einwanderer anscheinend von Vorteil, doch viele Gene könnten eher problematisch gewesen sein. Letztlich zeichnet sich damit nun ein neues Bild vom Ende der Neandertaler ab: Als der moderne Mensch vor etwa 43.000 Jahren in Europa einwanderte, absorbierte er die vergleichsweise wenigen dort lebenden Neandertaler. Selektionsprozesse bauten dann deren genetisches Erbe bis auf einen Rest von etwa drei Prozent ab.
Von wegen Romantik
Im zweiten Teil der Titelgeschichte in bild der wissenschaft widmet er sich einer eher „praktischen“ Frage der Geschichte von Neandertaler und modernem Menschen: Wie kam es zu den Kreuzungen? Interessanterweise legen die genetischen Untersuchungen nahe: Es kamen etwa dreimal mehr Kreuzungen zwischen Neandertaler-Männern und modernen Frauen zustande als die gegenteilige Variante. Mit anderen Worten: Männliche Neandertaler haben sich eher Zugriff auf die Frauen der Zuwanderer verschafft als umgekehrt. Offenbar waren sie den Neuankömmlingen doch nicht so deutlich unterlegen, wie meist vermutet.
Wie es allerdings zu den Zeugungen gekommen war, können Genanalysen nicht verraten. Doch anthropologische Untersuchungen zum menschlichen Verhaltens lassen erahnen, dass es sich wohl kaum um romantische Techtelmechtel gehandelt hat. Was vor 40.000 Jahren beim Aufeinandertreffen von modernem Mensch und Neandertaler geschehen sein könnte, zeichnet Thorwald Ewe in der neuen Ausgabe von bild der wissenschaft nach.
Unser neues Heft „Der Fluch der Gene: Was den Neandertaler vor 40.000 Jahren vernichtete“ ist ab Dienstag, 19. April 2016 im Handel erhältlich.