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„Wir Wissenschaftler sollten auf den Mittelstand zugehen“

Geschichte|Archäologie Gesellschaft|Psychologie

„Wir Wissenschaftler sollten auf den Mittelstand zugehen“
Reinhard Hüttl, Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften, bezieht Stellung zum Fracking, zu Industrie 4.0 und zur Situation des Mittelstandes. Leseprobe aus bild der wissenschaft 6/2016

wissenschaft.de: Wie beurteilt die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften acatech den ­Stellenwert der Technologie in Deutschland, Herr Prof. Hüttl?
Reinhard Hüttl: Wir haben zwei Strömungen: Zum einen sind die  Deutschen gegenüber Technologien mit unmittelbarem persönlichen Nutzen sehr aufgeschlossen. Andererseits registrieren wir in Deutschland eine wachsende Zurückhaltung gegenüber neuen Technologien und technischen Großprojekten, deren Nutzen nicht unmittelbar ist. Manchmal sind die Signale sogar widersprüchlich – wenn beispielsweise ein teils sorgloser Umgang mit Daten im Internet neben einer recht stark ausgeprägten Sensibilität in diesem Bereich steht. ­Stärker als in vielen anderen Ländern sehen die Menschen in Deutschland mögliche Nachteile, Risiken oder sogar Gefahren. Bekannteste Beispiele sind Kernenergie, Gen- und Biotechnologie, aber auch Projekte wie Stuttgart 21 oder das Hydraulic Fracturing, das Fracking. Der gesellschaftliche Widerstand hat beim Fracking dazu geführt, dass bereits die wissenschaftliche Erforschung weitgehend ausgesetzt ist. Damit schränken wir Handlungsoptionen ein, bevor sie näher untersucht sind.

Zum Fracking hat acatech im Mai 2015 ein Positionspapier vorgelegt, in dem darauf ­verwiesen wird, dass durch Testprojekte ­Erfahrungen gesammelt und Risiken besser beurteilt werden könnten. Die Bundesregierung hat sich dagegen von dieser Techno­lo­gie weitgehend distanziert. Offensichtlich hat Ihre Studie nicht gefruchtet.
Die politische Entscheidung steht noch aus. Jedenfalls gingen vor sechs Jahren Bilder des brennenden Wasserhahns durch alle Medien und wurden zum Symbol der Fracking-Risiken. Die US-Dokumentation wurde ­sogar für einen Oskar nominiert. Hierzu haben wir die Forschung detailliert gesichtet. Wir konnten wissenschaftlich belegen, dass diese brennenden Wasser­hähne nicht auf Fracking-Erdgas beruhten. Tatsächlich handelte es sich um Gase, die in Moor- und Torfgebieten natürlicherweise auftreten. Mehr noch, es stellte sich heraus, dass das US-Filmteam um die natürliche Ur­sache hinter dem Phänomen „brennender Wasserhahn“ wusste. Auch die ARD-Sendung Panorama hatte zunächst über die brennenden Wasserhähne als Fracking-Risiko berichtet, dann aber für eine spätere Sendung mit uns zusammengearbeitet und die Ursache der brennenden Wasserhähne richtiggestellt. Doch wenn solche Bilder einmal in der Welt sind, bekommen sie eine Eigendynamik. Dafür sorgt schon das Internet. Und irgendwann paust sich das bis in die Politik durch, sodass selbst Forschung zum Hydraulic Fracturing nicht mehr gewünscht ist.

Gegenwärtig gibt es fossile Brennstoffe im Übermaß. Und sie sind kostengünstiger denn je. Warum also sollte die Politik mit Fracking ein neues Fass aufmachen?
Wir decken gegenwärtig elf Prozent unseres Erdgas­bedarfs aus heimischen Quellen. Nach einer aktuellen Studie der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe könnten wir diesen Anteil mittels Fracking über 100 Jahre halten – also durch eine Technologie, die bei der Förderung von Tight-Gas in den vergangenen Jahrzehnten allein in Deutschland mehr als 300 Mal ohne Probleme eingesetzt wurde. Verzichten wir darauf, sind die heimischen Gasquellen vermutlich schon in zehn Jahren erschöpft. Dann wäre Deutschland vollständig abhängig von Gasimporten aus dem Ausland. Doch letztlich geht es hier um mehr als um Fracking, nämlich um die wirtschaftliche Nutzung des unterirdischen Raumes. Wie kann eine Gesellschaft, in der schon die Erforschung des Fracking so schwer möglich ist, jemals zu einer Entscheidung über ein ­atomares Endlager finden?

Sind das Auslösen einer neuen gesellschaftlichen Kontroverse und die Beseitigung eines aktuellen Problems nicht zwei Paar Stiefel?
Fast keine Technologie ist für die Energiewende alternativlos. Eine Ausnahme sind flexible Gaskraftwerke, zumindest für eine längere Übergangsphase, denn wir brauchen sie zur Absicherung der Grundlast. Dafür nur auf Gasimporte zu setzen und damit Umweltprobleme zu externalisieren, finde ich problematisch. Weil es ­sowohl beim Fracking als auch bei einem atomaren End­lager um die Nutzung des geologischen Untergrunds geht, sehe ich die Fracking-Debatte durchaus als ­Vorgeschmack auf die Endlager-Debatte. Wohl­gemerkt: Die Gesellschaft entscheidet – und die Wissenschaft muss akzeptieren, dass sich Gesellschaft und Politik gegen eine Technologie entscheiden. Die Fronten sollten sich jedoch nicht derart verhärten, dass die Wissenschaft nur mühevoll Gehör findet oder sogar die Erforschung einer neuen Technologie un-möglich wird. Es ist doch vielmehr so, dass erst die ­Forschung Optionen eröffnet, die dann eine adäquate Grundlage für gesellschaftspolitische Entscheidungen darstellen. Diese Entscheidungen können dann so oder so getroffen werden.

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Reinhard Hüttl

ist seit knapp acht Jahren Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech. Sie wurde 2008 gegründet und gehört zu den führenden der 22 Akademien für Technikwissenschaft in Europa. 1986 promovierte Hüttl (*1957) am Institut für Bodenkunde an der Universität Freiburg im Breisgau und wurde Forschungsleiter des Bergbauunternehmens Kali und Salze AG. Nach wissenschaftlichen Stationen in Washington D.C., auf Hawaii, in Freiburg und Eberswalde wurde er 1993 auf den Lehrstuhl für Bodenschutz und Rekultivierung an der Brandenburgisch Technischen Universität Cottbus berufen. Seit 2007 ist er Wissenschaftlicher Vorstand des Helmholtz Zentrums Potsdam – Deutsches GeoForschungsZentrum. Reinhard Hüttl wurde für seine wissenschaftlichen Verdienste vielfach ausgezeichnet und ist Mitglied bei einer Reihe internationaler Forschungsorganisationen.

 

 

Können die Sozialwissenschaften unserer Gesellschaft weiterhelfen? Die Technik­wissenschaften allein sind dazu ganz ­offensichtlich nicht in der Lage.
Ehe die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften 2008 gegründet wurde, haben wir uns intensiv mit der Frage beschäftigt, was die Technikwissenschaften ausmachen soll. Unser Ergebnis lautete: Die Technikwissenschaften umfassen nicht nur Ingenieur- oder ­angewandte Naturwissenschaften, sondern ebenso Gesellschaftswissenschaften. Techniksoziologen, -historiker, -philosophen, Ökonomen, Risikoforscher, Ethiker und viele andere gehören zur Akademie. Nur mit dieser Breite können wir Technologien wie das ­Fracking im Hinblick auf die gesellschaftliche Bedeutung, auf Chancen und Risiken hin untersuchen. Zudem: Technikwissenschaftler sind keineswegs Technokraten.

Zur Jahreswende 2015/16 ist der sogenannte Innovationsindikator erstmals von acatech mitherausgegeben worden. Weshalb?
Die Entwicklung von Innovationen kostet Geld, ist aber auch eine zentrale Quelle nachhaltigen Wohlstands. Ein Kernelement unserer Akademie ist, dass alle Mitglieder Wissenschaftler sind und dass im Senat etwa 100 technologisch orientierte Unternehmen vertreten sind. Insofern haben wir einen guten Zugang zu Forschung und Entwicklung in Unternehmen, die etwa zwei Drittel der deutschen Ausgaben für Forschung und Entwicklung von aktuell 83 Milliarden Euro bestreiten. Deswegen war der Innovationsindikator für uns schon immer wichtig. Die Chance, dass acatech sich daran beteiligt und wir uns inhaltlich einbringen können, haben wir gerne genutzt. Die Innovationslandschaft Deutschland international einzuordnen, sehen wir als wichtige Aufgabe an.

Welche Geldmittel stellt Ihre Akademie dafür zur Verfügung?
Wir engagieren uns mit personellen Ressourcen. Darüber hinaus beauftragen acatech und der Bundesverband der Deutschen Industrie zwei wissenschaft­liche Institute mit dem Volumen, wie es für solche wissenschaftliche Studien üblich ist.

Die aktuelle Studie beschreibt akribisch die Rolle der kleinen und mittelständischen ­Unternehmen (KMU) im Innovationssystem. Zwei Kernaussagen stechen hervor: Einmal hat kein anderes Land der Welt so viele ­“Hidden Champions“ wie Deutschland – Weltmarktführer in einem definierten Sektor. Und andererseits dokumentieren viele deutsche KMU eher Forschungslethargie. Sie ­erzielen laut Studie „Innovationserfolge ohne formale Forschung und Entwicklung“. Wie ­interpretieren Sie das, Herr Prof. Hüttl?
Forschung bei klein- und mittelständischen Unternehmen lässt sich nicht allein an den formal ausgewiesenen Unternehmensausgaben für Forschung und Entwicklung messen. Unsere Typologie von innovativen KMU zeigt: Viele sind ohne eine eigene Forschungsabteilung innovativ. Sie entwickeln Neuheiten im Zusammenspiel kleiner Teams, weil sie besonders nah am Kunden sind. Es findet jedoch eine radikale Veränderung statt, bei der die Digitalisierung eine zentrale Rolle spielt – Stichwort „Industrie 4.0“. Wenn Unternehmen sich zu sehr auf bewährte Muster verlassen, gefährden sie ihre Marktposition. Dieser Veränderungsdruck ist bereits für Großunternehmen eine Herausforderung – umso mehr für Mittelständler. Zugleich entstehen Chancen für neue Unternehmen, denken Sie etwa an die Berliner Startup-Szene. Zentrale Herausforderungen in Deutschland sind deshalb unsere relativ niedrige Gründungsdynamik, die Wachstumsbedingungen für Startups und die Beteiligung von KMU an Forschungs- und Entwicklungskooperationen – denn diese scheitert oft an hohen bürokratischen Hürden.

Zu Teil 2 des Artikels

Zu Teil 3 des Artikels

Das Interview ist in bild der wissenschaft 6/2016 erschienen.

  
   Unsere Ausgabe 6/2016 können Sie hier bestellen:

 

               

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© wissenschaft.de – Wolfgang Hess
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