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‚Zigeunerforschung’, ‚Kriminalbiologie’ und Zwangssterilisation von ‚Zigeunern’ an der Universität Tübingen

Museum: Kaiservilla Bad Ischl

‚Zigeunerforschung’, ‚Kriminalbiologie’ und Zwangssterilisation von ‚Zigeunern’ an der Universität Tübingen

Der Arbeitskreis „Universität Tübingen im Nationalsozialismus“ hat sich als interdisziplinäre Forschergruppe dem Themenfeld der ,Zigeunerforschung’, der ,Kriminalbiologie‘ und der Zwangssterilisation von ‚Zigeunern‘ sowie dem späteren Umgang damit an der Universität Tübingen gewidmet und einen Bericht mit einem Überblick über die Forschungsergebnisse vorgelegt. Die abwertende historische Fremdbezeichnung ‚Zigeuner‘ ist nicht deckungsgleich mit der Selbstbezeichnung Sinti und Roma, da sie mehr Gruppen umfasst. Oftmals wurden auch die Jenischen und andere Bevölkerungsgruppen unter der Kategorie ‚Zigeuner’ subsumiert.

Für die theoretische Wegbereitung der Verfolgung von Personengruppen, die als ‚Zigeuner‘ stigmatisiert wurden, kam ab 1936 der Rassenhygienischen und Bevölkerungsbiologischen Dienststelle des Reichsgesundheitsamts in Berlin unter der Leitung von Robert Ritter (1901-1951) eine zentrale Bedeutung zu. Ritter war zuvor von 1933 an als Nervenarzt an der Tübinger Universitätsnervenklinik tätig gewesen. Er engagierte sich bereits in Tübingen als aktiver ‚Rassenhygieniker’. Seine Tübinger Habilitationsschrift „Ein Menschenschlag“ stellte eine ‚rassenbiologische‘ Untersuchung über soziale Randgruppen aus dem Tübinger Raum dar. Sie legte bereits die methodischen Grundlagen für die spätere systematische Erfassung von ‚Zigeunern‘ in Deutschland, die sein Institut ab 1936 mit über 23.000 Gutachten umsetzte und die im späteren Genozid an den ‚Zigeunern’ endete.

Auf der Grundlage des ‚Auschwitz-Erlasses’ vom Dezember 1942 wurde der überwiegende Teil der im Reichsgebiet lebenden ‚Zigeuner’ und ‚Zigeunermischlinge’ nach Auschwitz deportiert. Die kleine Gruppe derjenigen, die von der Deportation ausgenommen waren, sollte zwangssterilisiert werden. Zwischen Mai 1944 und Januar 1945 wurden in den Tübinger Universitätskliniken mindestens fünf als ‚Zigeunermischlinge’ stigmatisierte Personen zwangsweise sterilisiert – ein Mann in der Chirurgischen Klinik und vier Frauen in der Frauenklinik. Drei von ihnen beantragten nach 1945 im Rahmen des Bundesgesetzes zur Entschädigung der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung Wiedergutmachung von Schäden an Körper und Gesundheit.

An der Erfassung der ‚Zigeuner’ durch die Rassenhygienische Forschungsstelle war Sophie Ehrhardt (1902-1990) mitbeteiligt, bis sie 1942 an das Rassenbiologische Institut der Universität Tübingen wechselte. Über das Ende des Nationalsozialismus hinaus arbeitete sie noch jahrzehntelang unbehelligt mit den unter Zwang erhobenen Daten der Rassenhygienischen Forschungsstelle. So betreute sie Mitte der 1940er Jahre zwei anthropologische Doktorarbeiten, in denen Gutachten ausgewertet wurden. Seit Mitte der 1950er Jahre verwendete sie die Daten offen in ihren Aufsätzen. Für das Projekt „populationsgenetische Untersuchungen an Zigeunern“ erhielt sie von 1966 bis 1970 Forschungsgelder von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Bis zu ihrer Pensionierung 1968 forschte und lehrte Sophie Ehrhardt am Tübinger Anthropologischen Institut. Im selben Jahr untersagte der neue Direktor des Tübinger Anthropologischen Instituts die weitere Verwendung der Gutachten.

Die Verbindung Ehrhardts zu der Erfassung der ‚Zigeuner‘ im Nationalsozialismus gelangte jedoch erst 1981 in das öffentliche Bewusstsein, nachdem 18 Sinti den Keller der Tübinger Neuen Aula besetzten und die Übergabe der dort lagernden ‚Zigeunermaterialien‘ an das Bundesarchiv forderten. Der Forderung der Sinti kam die Tübinger Universitätsleitung noch am gleichen Tag nach und verhängte ein Hausverbot gegen Ehrhardt, solange die Vorgänge nicht vollständig aufgeklärt waren. Ein gegen Sophie Ehrhardt angestrengtes Ermittlungsverfahren wurde 1985 eingestellt, eine Beschwerde des Verbandes Deutscher Sinti und Roma wies die Stuttgarter Generalstaatsanwaltschaft 1986 zurück.

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An der späten Aufarbeitung des Anteils der Universität Tübingen an der Verfolgung von ‚Zigeunern‘ hatten Studierende und Lehrende des Ludwig Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft einen wichtigen Anteil: Projektgruppen des Instituts thematisierten diese 1982 im Rahmen einer Ausstellung und 1988 in einem Sammelband. Der Förderverein zur Erforschung der Heimatgeschichte des Nationalsozialismus im Landkreis Tübingen unternahm die maßgeblichen historischen Forschungen über die lokalen Verstrickungen.

Der Arbeitskreis „Universität Tübingen im Nationalsozialismus“ wurde 2001 gegründet und hat seitdem Berichte über die Aberkennung von Doktortiteln, über Juden, Zwangsarbeit, Zwangssterilisationen an der Universität Tübingen in der Zeit des Nationalsozialismus sowie einen umfangreichen Sammelband (2010) herausgegeben.

Quelle: Universität Tübingen
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