Archäologen haben in der Mainzer Altstadt 18 jüdische Grabsteine aus dem Mittelalter freigelegt. Die Steine waren wahrscheinlich nach spätmittelalterlichen Pogromen aus dem jüdischen Friedhof der Stadt entwendet und in einer Mauer als Füllmaterial verbaut worden. Es handelt sich somit um Zeugnisse des bedeutenden historischen Erbes der Juden in der Region und zugleich um Spuren der Feindseligkeit, der diese Menschen in Deutschland und Europa immer wieder ausgesetzt waren.
Wie so oft haben Bauarbeiten die Archäologen auf den Plan gerufen: In der Rheinstraße im Osten der Mainzer Altstadt waren Steine mit hebräischen Schriftzeichen aufgetaucht.
Im November 2020 hat die Landesarchäologie Mainz dann insgesamt 18 Exemplare dieser Fundstücke freigelegt. Sie lagern nun in einem Depot der Generaldirektion Kulturelles Erbe in Mainz-Bretzenheim, wo ihre Inschriften momentan wissenschaftlich erfasst werden. Was es mit den Grabsteinen grundsätzlich auf sich hat, ist allerdings bereits klar, berichtet das Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz (MWWK): Sie wurden einst aus dem im 11. Jahrhundert gegründeten jüdischen Friedhof von Mainz entwendet und zweckentfremdet.
In einer Mauer verbaut
„Die Grabsteine wurden im 15. Jh., spätestens in der ersten Hälfte des 16. Jh. in der Rheinufermauer verbaut“, erklärt Marion Witteyer von der Landesarchäologie Mainz. Ihr zufolge waren möglicherweise die Pogrome von 1438 Anlass für die Zerstörung der Grabstätten. „Die Funde sind Spuren der bedeutenden jüdischen Geschichte von Mainz und werfen außerdem Licht auf die dunklen Phasen der Geschichte als hier und in vielen anderen Städten Deutschlands und Europas jüdische Gräber geschändet und Grabsteine als Baumaterial wiederverwendet wurden“, so Witteyer. Ob sich unter den neu gefundenen Mainzer Grabsteinen auch solche von bekannten mittelalterlichen Juden befinden, sollen die genaueren Analysen der Inschriften nun klären, sagt die Archäologin.
Wie das MWWK berichtet, bildete Mainz gemeinsam mit Speyer und Worms im Mittelalter ein europaweit bedeutendes Zentrum jüdischen Lebens. Der Verbund dieser Gemeinden im Mittelalter wird als „SchUM“ bezeichnet. Der auch „Judensand“ genannte Friedhof in Mainz ist der älteste jüdische Begräbnisort in Deutschland und zugleich der größte aus der Zeit bis 1300. Von ihm stammt auch der älteste datierte jüdische Grabstein Mitteleuropas aus dem Jahr 1049 – er befindet sich heute im Landesmuseum Mainz. Der bis heute in Teilen erhaltene Friedhof besaß eine weitreichende Bedeutung: Grundlegende Prinzipien der Anlage und Grabgestaltung beeinflussten jüdische Begräbnisorte in ganz Mitteleuropa, schreibt das MWWK.
Weitere Spuren der jüdischen Geschichte
Bei den nun entdeckten Grabsteinen aus dem alten jüdischen Friedhof handelt es sich allerdings nicht um die ersten verbauten Exemplare, die wieder aufgetaucht sind. Bereits 1926 wurden zahlreiche zuvor bei Bauarbeiten gefundene mittelalterliche Grabsteine in einem Denkmalfriedhof aufgestellt, der sich noch immer im Bereich des alten Friedhofs befindet. Um die nachträgliche Aufstellung zu kennzeichnen, verzichtete man 1926 bewusst auf die für jüdische Friedhöfe übliche Ostausrichtung der Grabsteine. Ihre Aufstellung folgt hingegen einem serpentinenartig gewundenen Pfad und sollte dadurch in spezieller Weise an die Verstorbenen erinnern.
„Die jetzt wiederentdeckten Grabsteine sind weitere jahrhundertealte Zeugnisse der jüdischen Verwurzelung und Tradition in Mainz. Wir werden jetzt gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde klären, wie wir mit den Funden umgehen werden“, sagt Kulturminister Konrad Wolf. Der Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Mainz Aharon Vernikovsky sagt dazu: „Die gefundenen Grabsteine sind ohne Frage von großer historischer und religiöser Bedeutung für die Erschließung jüdischer Geschichte des mittelalterlichen Mainz.“ Die stellvertretende Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Mainz, Joanna Wroblewska-Nell ergänzt: „Diese Grabsteine könnten auch dafür stehen, dass jüdisches Leben in Mainz nicht nur eine Geschichte hat, sondern auch eine Zukunft haben soll.“
Quelle: Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz