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Abschotten ist die falsche Politik

Gesellschaft|Psychologie

Abschotten ist die falsche Politik
Keine andere wissenschaftliche Jahreskonferenz stößt weltweit auf mehr Interesse als die AAAS-Tagung, die soeben in Boston stattfand. bdw befragte dort den EU-Forschungskommissar Janez Potocnik über Hochs und Tiefs auf dem europäischen Wissenschaftsbarometer. JANEZ POTOCNIK ist seit 2004 EU-Kommissar für Wissenschaft und Forschung. Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler (Jahrgang 1958) stammt aus Slowenien und war von 2002 bis 2004 Europaminister seines Landes. Im vergangenen Februar nahm er für die EU am Jahrestreffen der American Association for the Advancement of Science (AAAS) teil. Dort trafen sich 7600 Teilnehmer, die in 161 verschiedenen Symposien miteinander diskutierten. Forschungspolitik war dabei ein Schwerpunkt.

bild der wissenschaft: Die EU ist prominent vertreten beim Jahrestreffen der weltweit größten wissenschaftlichen Gesellschaft American Association for the Advancement of Science, AAAS. Warum, Herr Kommissar Potocnik?

POTOCNIK: Die Internationalisierung der Forschung ist unser großes Thema. Und die AAAS ist einfach eine der seriösesten und interessantesten Wissenschaftsveranstaltungen der Welt, auf der sich Forscher aus den verschiedensten Fachrichtungen treffen. Die EU wird auch in den kommenden Jahren hier vertreten sein. Die Welt ändert sich, und die entstehenden Probleme werden wir nur in weltweiter Kooperation lösen können. Unsere Anwesenheit hier auf der AAAS soll das demonstrieren.

bdw: Das europäische Gegenstück zum AAAS-Meeting ist das EuroScienceOpenForum – die ESOF-Konferenz. Die nächste findet im Juli in Barcelona statt. Kopieren die Europäer das US-Vorbild?

POTOCNIK: Es steckt die gleiche Philosophie dahinter, viele gute und bekannte Wissenschaftler mit der Öffentlichkeit und den Medien zusammenzubringen. So etwas brauchen wir unbedingt. Die ESOF-Treffen kommen erst seit vier Jahren zustande, und sie sind bislang weniger prominent als die US-Treffen. Das wollen wir ändern.

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bdw: Was soll das politisch bewegen ?

POTOCNIK: Wir hatten vor Kurzem ein Treffen mit Forschungsministern zentralamerikanischer Länder und von Mexiko in einem mexikanischen Mathematik-Institut. Dessen Direktor saß mit uns Politikern an einem Tisch. Am Ende der Diskussionen sagte er: Sie haben ja kein einziges Wort über Mathematik verloren – obwohl Mathematik doch hinter allem steckt. Ähnlich ist es bei der gesamten Wissenschaft. Egal von welchem drängenden Zukunftsproblem wir sprechen – sei es Energieversorgung, Umweltverschmutzung, Gesundheitsfragen oder die Entwicklung der Wirtschaft –, die Lösung steckt in Innovation und Forschung. Das ist in den Köpfen vieler Leute noch nicht drin. Doch ich habe das Gefühl, dass sich das in Europa ändert. In vielen Mitgliedsländern der EU haben sich die Regierungen verpflichtet, mehr in die Forschung zu investieren. Veranstaltungen wie diese hier in Boston sind ein wichtiger Puzzlestein bei dem Prozess. Darum ist mir die Teilnahme an solchen Treffen so wichtig.

bdw: Im internationalen Wettstreit um die besten Köpfe könnte Europa erfolgreicher sein. Was können wir tun, damit die EU so attraktiv wird, dass unsere ausgewanderten Forscher zurückkommen und – mehr noch – Wissenschaftler, die nicht aus der EU stammen, gerne in Europa forschen?

POTOCNIK: Wir sind schon jetzt attraktiv. Doch es versuchen immer mehr Länder, kluge Köpfe ins Land zu holen. Für uns stellt sich also die Frage: Wie können wir in diesem Wettstreit bessere Karten bekommen? Das geht zum Beispiel, indem wir Barrikaden abbauen. Forscher müssen sich frei in der EU bewegen können. Ihre Studienabschlüsse müssen anerkannt werden. Der Arbeitsmarkt muss für sie offen sein. Darum müssen wir uns kümmern.

bdw: Der freie Fluss von Gedanken setzt die Freiheit der Forscher voraus, dort zu forschen, wo sie wollen.

POTOCNIK: Genau! Man kann nicht über den Brain Drain jammern und beklagen, dass man Forscher verliert und keine Neuen ins Land kommen, wenn man gleichzeitig die Grenzen schließt. Wer an der Erschaffung von Neuem beteiligt sein will, muss für neue Strukturen offen sein.

bdw: Damit kritisieren Sie die Politik einiger EU-Länder.

POTOCNIK: In meiner bisherigen Berufslaufbahn habe ich eines gelernt: Wenn jemand verlangt, die nationalen Interessen zu schützen, tut er seinem Land nie einen Gefallen. Einem Land wirklich zu nützen, bedeutet stets, es langfristig zu öffnen. Wenn jemand behauptet, er schütze die Interessen seines Landes durch Abschottung, dann stecken meist die speziellen Interessen einer Person oder einer Gruppe dahinter. Das habe ich persönlich erlebt, als ich an den Beitrittsverhandlungen meines Heimatlandes Slowenien in die EU teilnahm.

bdw: Abgesehen von schwer zu überwindenden Grenzen: Wo sehen Sie die größten Hürden im freien Fluss der Ideen? In den Köpfen der Menschen?

POTOCNIK: Nein, nein, die Menschen sind schon weit. Es sind immer noch die Begrenzungen im System, die Menschen daran hindern, dort hinzugehen, wo man sie braucht. Probleme macht uns etwa die mangelnde Übertragbarkeit von Sozialversicherungen und Rentenansprüchen. Erst gestern habe ich ein interessantes Statement von einem Jungforscher gehört: Er müsse sehr hart arbeiten, um beizeiten Geld zurückzulegen, weil er eines Tages ohne Rentenansprüche dastehen würde. Ist es nicht verrückt, dass sich unsere jungen Forscher über so etwas Gedanken machen müssen? Solche bürokratischen Hindernisse müssen wir beseitigen. Wir arbeiten jetzt an einem speziellen Forscher-Pass, der die Bürokratie vereinfachen soll. Wie weit wir damit kommen, weiß ich nicht. Schließlich muss ein solche Entscheidung für alle Mitgliedsstaaten akzeptabel sein.

bdw: Wo ist die EU stark?

POTOCNIK: In der Nanotechnologie und in der gesamten Gesundheitsforschung. Bei der Computerforschung sind die USA zurzeit noch dominant, aber generell holt Europa auf breiter Front auf. Bei der Zahl wissenschaftlicher Publikationen hat die EU die USA bereits überholt, aber auch hier zeigt sich, dass die meisten Forschungen nicht mehr von einzelnen Wissenschaftlern vorangetrieben werden, sondern von Wissenschaftlerteams – und die sind immer häufiger international zusammengesetzt. Deshalb mag ich persönlich es nicht, wenn man mit dem Finger auf ein Land zeigt und sagt, das ist darin gut und darin schlecht. Dazu ist die Welt heute viel zu vernetzt.

bdw: Im letzten bdw-Interview vor drei Jahren haben Sie den Forschermangel in der EU beklagt.

POTOCNIK: Das Problem haben wir immer noch. Es zu lösen, ist Aufgabe einer ganzen Generation. Eine rasche Änderung zu verlangen, ist fast so, als ob sie von Ländern, die Krieg gegeneinander geführt haben, verlangen, fünf Jahre nach Kriegsende Freundschaft zu schließen. Wichtig ist, dass wir das Problem erkannt und die richtige Richtung eingeschlagen haben. Wenn Sie mir beim nächsten Interview in drei Jahren diese Frage stellen, wird die Antwort im Wesentlichen immer noch dieselbe sein. Wir müssen erst einmal genügend Kinder für Wissenschaft begeistern und sie in der Schule in die entsprechenden Kurse bringen.

bdw: Anderswo geht das schneller. Werden Indien und China uns in der Forschung bald ähnlich herausfordern wie heute schon in der Produktion?

POTOCNIK: Wenn die Wissenschaft in diesen Ländern wächst, kann das nur gut für uns sein. Wenn sich zwei Menschen zusammensetzen und miteinander über ihre Ideen reden, verfügen wir hinterher über das Wissen von zwei Personen.

bdw: Sie sehen nicht das Problem, dass wir ganze Forschungsbastionen an Indien oder China verlieren?

POTOCNIK: Was ist falsch daran, wenn Länder, deren Einwohner bloß zehn Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften, ihre Forschungsanstrengungen deutlich erhöhen? China hat eindeutig zugelegt. Indien noch nicht so offensichtlich – aber auch dieses Land wird folgen. Europa, Nordamerika und Japan werden dagegen Marktanteile verlieren. Das heißt ja nicht, dass wir Europäer schlechter leben müssen. Ganz im Gegenteil: Solange wir uns weiterentwickeln, sehe ich kein Problem auf uns zukommen.

Das Gespräch führte bdw-Korrespondent Thomas Willke ■

COMMUNITY THE BEST OF FUTURIS DVD IN DEUTSCHER SPRACHE

Diese bild der wissenschaft-Ausgabe enthält auf der vorletzten Umschlagseite eine DVD mit Filmbeiträgen zu aktuellen Forschungsergebnissen. Alle dargestellten Forscherteams wurden von der EU-Kommission finanziell unterstützt. Sollte Ihr bdw-Exemplar die DVD nicht mehr enthalten, schicken wir sie Ihnen kostenfrei zu – so lange der Vorrat reicht.

Eine Mail an wissenschaft@konradin.de genügt.

DER COUP VON OBERBAYERN

Betrachtet man die Bundesreplik Deutschland nach der Gliederung der amtlichen EU-Statistik, so ist Oberbayern die Region, die am stärksten von den Fördermitteln des 6. EU-Forschungsrahmenprogramms profitierte. Dort landeten gut 721 Millionen Euro. Die Region Köln – im bundesweiten Vergleich auf Platz 2 – erreichte nicht einmal die Hälfte davon.

WO DIE EU-GELDER LANDEN

Von 2002 bis 2006 förderte die EU mehr als 65 000 Unternehmen und Institutionen der EU-Mitgliedsstaaten durch das 6. Forschungsrahmenprogramm. Insgesamt wurden dabei rund 15,3 Milliarden Euro vergeben. Der größte Anteil entfiel mit 3 Milliarden Euro auf Deutschland, gefolgt von Großbritannien mit knapp 2,4 Milliarden und Frankreich mit fast 2,2 Milliarden Euro.

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

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