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Berechenbar fließende Menschenmassen

Gesellschaft|Psychologie

Berechenbar fließende Menschenmassen
Im Blick der Forscher: Die Massendynamik beim Start des jährlichen Chicago-Marathon. (Credit: Nicolas Bain und Denis Bartolo)

Nach welchen Regeln bewegen sich große Menschengruppen? Beim Start eines Marathons verhalten sie sich offenbar wie Flüssigkeiten und ihre Dynamik ist mathematisch vorhersagbar, geht aus einer Studie hervor. Die Ergebnisse könnten nun der Entwicklung von besseren Strategien im Umgang mit Menschenmassen zugute kommen, sagen die Wissenschaftler.

Faszinierend dynamische Gebilde aus vielen einzelnen Individuen: Die Prinzipen hinter den erstaunlich koordinierten Bewegungen von Fisch- oder Vogelschwärmen stehen bereits seit einiger Zeit im Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen. Das Interesse gilt dabei nicht nur den biologischen Grundlagen des Schwarmverhaltens – Forscher versuchen auch die Prinzipien dieser Systeme in mathematische Modelle zu fassen. Entsprechende Algorithmen könnten sich technisch nutzen lassen – beispielsweise für die Steuerung von Schwärmen aus Flugrobotern. Mathematische Modelle können zudem vorhersagbar machen, wie sich Gruppen aus Tieren – oder Menschen – verhalten.

Das „Schwarmverhalten“ des Menschen im Blick

Klar ist: Das Verhalten eines Schwarms beruht auf den komplexen Interaktionen zwischen den Individuen innerhalb der Gruppe. Sie reagieren auf der Grundlage bestimmter Regeln und Verhaltensweisen, die letztlich die Dynamik des gesamten Schwarm-Gebildes prägen. Entsprechend lag bisher der Fokus auf der Erforschung der Prinzipien der Reaktionen der Einzelnen. Im Fall der Untersuchung des recht komplexen „Schwarmverhaltens“ des Menschen ist dieser sogenannte agentenbasierte Ansatz jedoch schwer anwendbar, erklären Nicolas Bain und Denis Bartolo von der Universität Lyon. Anstatt Menschengruppen als eine Kombination von individuell agierenden Personen zu betrachten, haben sie die Masse als Einheit betrachtet und versucht, deren Reaktionsprinzip zu erfassen.

Im Rahmen ihrer Studie analysierten Bain und Bartolo dazu die Bewegung von Marathon-Läufern am Start des jährlichen Chicago-Marathons. Die Teilnehmer beginnen dieses Rennen in Untergruppen: Marathon-Mitarbeiter bilden eine Linie vor jeder Gruppe und halten die Teilnehmer zurück, bis sie Platz haben, um sich vorwärts zu bewegen. Dieses Verfahren erzeugt periodische Effekte, die sich gut analysieren lassen, sagen die Wissenschaftler.

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Wellen ziehen durch Marathon-Läufer

Sie kamen zu dem Ergebnis: Das kollektive Verhalten der Menschenmengen in dem seitlich begrenzten Raum lässt sich klar anhand von Prinzipien beschreiben, die auf der Strömungslehre beruhen. Mit anderen Worten: Modelle des Verhaltens von Flüssigkeit können auf die Dynamik der Menschenmengen angewendet werden. Im Fall von Wasser ist es für eine Vorhersage-Theorie der Dynamik der Masse nicht nötig, das Verhalten der Wassermoleküle zu kennen – und ähnlich ist es auch im Fall der Menschenmengen, sagen die Forscher.

Konkret konnten Bain und Bartolo Wellen identifizieren und beschreiben, die durch die Läufergruppen von vorn nach hinten wanderten. Sie bewegten sich demnach mit konstanter Geschwindigkeit von etwas mehr als einem Meter pro Sekunde und waren somit berechenbar. Auf dieser Grundlage entwickelten die Forscher letztlich ein Modellsystem, mit dem sie auch die Dynamik bei anderen Rennen, einschließlich in Paris und Atlanta, vorhersagen und beschreiben konnten.

Die Ergebnisse legen somit nahe, dass die hydrodynamische Modellierung dem Menschenmassen-Management zugute kommen könnte. Der optimierte Umgang ist dabei besonders in Situationen wichtig, in denen die Massendynamik gefährlich werden kann, wie etwa bei durch Unfälle oder Gewalt verursachten Paniksituationen. „Der Erfolg des Ansatzes dieser Arbeit eröffnet Kollektivverhaltensforschern nun viele Wege und Forschungsansätze“, schreibt Nicholas Ouellette in einem Kommentar zur Studie. Auch Bain und Bartolo wollen weiter am Ball bleiben: Sie untersuchen nun die Reaktionen von Gruppen auf besonders starke Störungen, um die Grenzen ihrer hydrodynamischen Beschreibung von Menschenmengen auszuloten.

Quelle: Science, doi: 10.1126/science.aat9891

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