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Chemotherapie gegen die Angst

Gesellschaft|Psychologie

Chemotherapie gegen die Angst
Forscher rücken dem Gedächtnis mit Pillen zu Leibe. Sie wollen Patienten damit quälende Erinnerungen und Ängste nehmen. Die Therapie eröffnet aber auch die Möglichkeit, das Gedächtnis zu manipulieren.

„Die Evolution hat Mittel und Wege gefunden, uns die Dinge einzubläuen, die für unser Überleben wichtig sind“, sagt Roger Pitman. So entsteht ein stabiles und zuverlässiges Gedächtnis. Dennoch verabreicht der Psychiater von der Harvard University seinen Patienten jetzt, erstmals und erfolgreich, ein „ Anti-Gedächtnis-Serum“, um zu verhindern, dass sich bei ihnen Erfahrungen festsetzen.

Wird das menschliche Gedächtnis zur Manipulation freigegeben? Kann man in Zukunft Erinnerungen löschen?

Einerseits: Ein Eiszeitjäger, der auf dem Weg zum Wasserloch von einem Säbelzahntiger angefallen wurde, musste sich die Gefahrenquelle hinter die Ohren schreiben. Aber er musste auch durchatmen, wenn die unmittelbare Bedrohung vorüber war: Hätte der Schock unseren Ahnen im Neandertal noch Monate später lähmend in den Gliedern gesessen, wären sie von der Evolution als „ Blindgänger“ abserviert worden.

Andererseits: Schreckliche Ereignisse, die über einen Menschen hereinbrechen, können zu einer anhaltenden – seelischen und nachfolgend körperlichen – Zerrüttung führen. Schwere Verkehrsunfälle, Brandkatastrophen, Kriegshandlungen, aber auch eine Vergewaltigung oder Scheidung lösen oft ein Posttraumatisches Stress-Syndrom (post traumatic stress disorder, PTSD) aus. In ihren Träumen und Fantasien durchleiden die Opfer das Geschehen (Trauma) immer wieder. Oft setzt die Erinnerung an das Erlebte schlagartig ein, wenn etwa eine Sirene, ein Reifenquietschen oder Brandgeruch die geistige Verbindung zum realen Hergang stiftet. Jeder zweite Mensch erleidet im Laufe seines Lebens ein schwerwiegendes Trauma. Bei jedem zehnten Opfer wuchert es zu einer behandlungsbedürftigen Gesundheitsstörung aus.

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Von den unzähligen Eindrücken, die Tag für Tag unseren Bewusstseinsstrom passieren, lässt nur eine verschwindend kleine Minderheit Spuren im Langzeitgedächtnis zurück.

Wie der kalifornische Neurobiologe James L. McGaugh vor über einem Jahrzehnt entdeckte, haben Erinnerungen die beste Chance, dauerhaft zu werden, wenn sich das Emotionszentrum Amygdala – der „Mandelkern“ – in den Speichervorgang einklinkt. Hier wird das Erlebte mit den begleitenden Gefühlen – etwa Angst – gespickt und an den Hippocampus zur Langzeitabspeicherung übergeben. Amygdala ist wie kein anderer Ort im Gehirn mit „Haltestellen“ für körpereigene Stimulanzien versehen.

Einer dieser endogenen Botenstoffe, das Noradrenalin, schraubt die Empfänglichkeit für Nebensächliches herab, während es die Sensibilität für wichtige Dinge auf die Spitze treibt. Als McGaugh Ratten Noradrenalin injizierte, die gerade etwas lernten, prägte sich die Lektion besonders gründlich ein. Die mit dem Botenstoff aufgeputschte Amygdala ist vermutlich der Grund dafür, warum jeder weiß, wo er am 11. September 2001 war, während kaum jemand etwas mit dem 29. August 2001 anfangen kann. Die Aufgabe des Noradrenalins besteht offenbar darin, alle bedeutungsvollen Aspekte hervorzuheben und quasi rot zu unterstreichen, damit sie auffallen und besser in der Erinnerung haften.

Aber es funktioniert auch umgekehrt: Wenn man die stimulierenden Nervenbahnen mit einem Gegenmittel (Antagonisten) blockiert, schwächt sich die Erinnerung ab: McGaughs Testpersonen sollten sich für diese Untersuchung die harmlose Geschichte eines kleinen Jungen merken, der seinen Vater am Arbeitsplatz besucht. In einer zweiten Version der Geschichte ereignet sich ein Autounfall, bei dem der Junge schwer verletzt wird.

Von der neutralen Geschichte fielen den Teilnehmern eine Woche später nur noch die groben, schematischen Züge ein. Die dramatische Variante mit dem Unfall hatte sich dagegen felsenfest in ihrem Gehirn eingebrannt.

Ganz anders bei den Probanden, die während der Erzählung den Betablocker „Propranolol“ geschluckt hatten, der die Amygdala gegen Noradrenalin abschirmt. Bei ihnen blieb – unter dem Einfluss der chemischen Gedächtnisbremse – die aufwühlende Variante genauso flach und oberflächlich hängen, wie die uninteressante Version.

Menschen, die unmittelbar nach einem Trauma von Adrenalin und Noradrenalin überflutet werden, erleiden besonders häufig ein Posttraumatisches Stress-Syndrom. Das drückt sich unter anderem in Herzrasen und Panik aus. Könnte man diesem Alb mit Propranolol die Spitze nehmen? Pitman wusste aus seiner Forschung, dass neu Erlebtes erst in einem langsamen Prozess von Bearbeitung und Bewertung („Konsolidierung“) vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis übergeht. Traumatische Erinnerungen verfestigen sich erst dann im Gedächtnis, wenn sie in den Folgetagen immer wieder vor dem geistigen Auge auftauchen.

Für seine Pilotstudie rekrutierte Pitman 40 Patienten, die kurz nach einem Raubüberfall, einem Crash im Straßenverkehr oder einer Vergewaltigung in eine Klinik-Notaufnahme kamen. Eine Hälfte erhielt drei Wochen lang den erlösenden Betablocker Propranolol, die andere wurde mit einer Zuckerpille abgespeist. Einige Monate später durchlebten alle Beteiligten das Trauma noch einmal – sie hörten sich den Bericht an, den sie bei der Aufnahme selbst auf Band gesprochen hatten. „Da lässt sich schnell erkennen, wen ein Erlebnis länger als normal peinigt“, erklärt der Studienleiter.

Das Ergebnis ließ an Klarheit nichts zu wünschen übrig: Von den Probanden, die das Placebo erhalten hatten, zeigten 43 Prozent eindeutige Stresssymptome. In der Propranolol-Gruppe traten dagegen keinerlei psychischen Nachwehen auf. „Das Propranolol scheint zu helfen“, triumphierte Pitman. Sein Ergebnis wurde vor kurzem durch eine französische Studie an elf Patienten bestätigt, denen man mit Propranolol über eine traumatische Erfahrung hinweghalf.

Die oberste amerikanische Gesundheitsbehörde NIMH findet diese Ergebnisse so aufregend, dass sie grünes Licht für eine größere Nachfolgestudie gegeben hat. Noch in diesem Jahr wird Pitman 128 Menschen mit Propranolol versorgen, die gerade durch die Hölle gegangen sind.

Für Menschen, die bereits an PTSD leiden, kommt die chemische Angstlösung nach der bisherigen Auffassung zu spät – das Grauen hat sich ihnen bereits ins Langzeitgedächtnis eingebrannt. Aber auch in diesem Punkt beginnen die Forscher umzudenken: Wie die New-Yorker Neurologen Karim Nader und Joseph E. LeDoux mit einer bahnbrechenden Studie aufdeckten, bleibt das Gedächtnis lange Zeit offen für Retuschen.

Die Forscher spielten bei ihren Untersuchungen Ratten einen Ton vor, der mit einem Elektroschock gekoppelt war. Nach einer Weile rief allein die Präsentation des Tons eine konditionierte „ Schreckstarre“ hervor. Als sie aber den Ratten während des Lernprozesses den Proteinblocker Anisomycin in das Emotionszentrum Amygdala einflößten, blieb die Lektion ungelernt: Der Ton jagte den Tieren keinen Schrecken ein. Wurde das Anisomycin allerdings sechs Stunden nach der Konditionierung verabreicht, blieb der Proteinblocker wirkungslos – die Ratten erstarrten beim bloßen Erklingen des Tones. Die Erinnerung an die Assoziation (Elektroschock) hatte sich im Gehirn bereits festgesetzt. Die geniale Abänderung des Versuchs bestand darin, Ratten, die den Lernstoff – „Ton gleich Elektroschock“ – verinnerlicht hatten, ein weiteres Mal mit dem bedrohlichen Geräusch zu konfrontieren – diesmal ohne Elektroschock. Bei dieser Wiederholung bekamen die Tiere den Proteinblocker Anisomycin. Die Ergebnisse stellten alle Erwartungen auf den Kopf: Anstatt beim Vernehmen des Tones zusammenzuzucken, blieben die Tiere unbeeindruckt. Der Proteinblocker – während der Rückblende verabreicht – hatte die traumatische Erinnerung ausradiert.

Die Schlussfolgerung der New-Yorker Neurologen Nader und Le Doux: Immer dann, wenn eine alte Erinnerung aus dem Langzeitgedächtnis ins Bewusstsein gezerrt wird, nimmt das Gehirn sie auseinander, aktualisiert sie und baut Nachträge ein. Mit neu gebildeten Proteinen überträgt es dieses „Update“ dann ins Langzeitgedächtnis – das Original wird überschrieben, in den Hintergrund gedrückt und abgeschwächt.

Niemand weiß, warum die Evolution unser Gedächtnis so konstruiert hat, dass es nachträglich leicht manipuliert werden kann. Die Erinnerungen sollten eigentlich unverwüstlich sein, damit man sich auf sie verlassen kann, denn sie sind ein Grundbestandteil unseres Selbst-Bewusstseins.

In gewissen Situationen ist es allerdings sinnvoll, unpassende – lähmende oder quälende – Speicherinhalte zu überschreiben. Deshalb könnten diese Ergebnisse auf lange Sicht Ansätze liefern, wie man seelisch gestörte Menschen – lange nach der belastenden Erfahrung – von ihren traumatischen Erinnerungen befreit. Die renommierte amerikanische Gedächtnisforscherin Elisabeth Loftus meint: „Der Patient müsste sich bei seiner Therapie an die traumatisierende Situation erinnern, während man sein Gehirn mit einem Proteinblocker oder einer anderen Droge am erneuten Abspeichern hindert.“

Der Forscher Dr. Beat Lutz vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München hat gerade mit Aufsehen erregenden Befunden gezeigt, dass sogar haschischähnliche Drogen diesen therapeutischen Zweck erfüllen können. Seine Experimente basieren auf dem Wissen, dass unser Gehirn unnütze oder schädliche Erinnerungen mit körpereigenen Hanfdrogen („Endocannabinoiden“) eliminiert. Lutz legte bei Mäusen gentechnisch die Andockstellen für diese körpereigene Droge still. Fortan schafften es die genmanipulierten Nager nicht mehr, sich die konditionierte Schreckstarre aus dem Kopf zu schlagen. „Auch wenn wir den Ton Tag für Tag ohne Schock anbieten, lernen die Tiere ohne Cannabinoid-Rezeptoren nicht, dass er harmlos ist“, erläutert Lutz. Normale Mäuse hingegen lässt der Ton binnen weniger Tage kalt.

Der Forscher glaubt, dass er den Spieß umdrehen kann: Die Gabe synthetischer Cannabinoide soll Tieren und Menschen dabei helfen, krankhaft fixierte Gedächtnisverknüpfungen wieder loszuwerden. Es reiche aber nicht, so Lutz, die Endocannabinoide medikamentös zu verstärken. „Wir müssen die schlechte Erinnerung zum Umlernen zurückholen.“

Der Vorteil gegenüber dem Propranolol und anderen Drogen besteht darin, dass man mit den körpereigenen Cannabinoiden direkt die von der Natur vorgesehene Löschtaste des Gehirns betätigt. Derzeit experimentiert Lutz mit einem Potpourri von hanfähnlichen Psychodrogen. Sie lassen bei ganz normalen Mäusen im Handumdrehen Gras über konditionierte Ängste wachsen.

Noch scheint es undenkbar, dass man gestörten Menschen eines Tages mit Haschisch und Marihuana die Angst austreiben könnte. Doch der cannabisähnliche Arzneistoff Cycloserin ist bereits zur Behandlung von Tuberkulosekranken zugelassen. Michael Davis, Hirnforscher an der Emory University in Atlanta, hat damit erfolgreich Phobien gebändigt: 30 Patienten, denen es vor der Höhe graute, mussten am Bildschirm virtuelle Gebäude erklimmen, die immer weiter hinauf in die Wolken ragten. Bei der Konfrontation mit dem simulierten Angstauslöser begannen die Probanden Blut und Wasser zu schwitzen.

Einem Teil der Verängstigten verabreichte Davis eine milde Dosis des Tuberkulosemittels. „Mit der Höhe konfrontiert, reagierten sie nun immer weniger ängstlich“, freut sich Davis. Zwar war auch in einer Placebo-Gruppe ein Rückgang der Beklemmung zu verzeichnen, aber die mit Cycloserin Therapierten schüttelten ihre Ängste dreimal rascher. ab.

Drei Monate nach Therapie-Ende zeitigte der Wirkstoff noch größeren Erfolg. „Die Patienten, die Cycloserin erhalten hatten, setzten sich in ihrem Alltagsleben doppelt so häufig den gefürchteten Orten aus. Sie überquerten ohne Scheu Brücken und drückten im Fahrstuhl die Aufwärtstaste“, berichtet Michael Davis. Der Mehrwert an Lebensmut stimmt den Hirnforscher zuversichtlich. In Kürze will er das Elixier des Vergessens an amerikanischen Kriegsveteranen testen, die das Trauma Vietnam auch nach Jahrzehnten nicht loswerden.

Doch nicht jedermann schließt sich seinem Optimismus an. Eine Ethik-Kommission, die den amerikanischen Präsidenten berät, hat gerade ihr Missfallen über therapeutische „Gedächtnisretuschen“ kundgetan. Es sei zu befürchten, dass die Verfügbarkeit von Anti-Trauma-Drogen zu einem saloppen Umgang mit den Schrecken des Lebens verführe. Was, wenn gewissenlose Ärzte im großen Stil Propranolol an Soldaten vor einem Kampfeinsatz verabreichten? Oder an Menschen, die sich schlicht und einfach gegen Reue und Gewissensbisse wappnen wollen?

Schließlich stelle sich die Frage, was passieren würde, wenn man traumatische, peinliche oder einfach nur lästige Erinnerungen nach Belieben tilgen könnte. „Vereiteln wir dann nicht den Mechanismus, durch den der Mensch lernt, wächst und eine Transformation erfährt?“

Doch Pitman kontert scharf. „Es ist deplatziert, nahe zu legen, man solle das Leiden einzelner Individuen für den Nutzen der Gemeinschaft konservieren. Ich sehe tagaus, tagein Menschen, die von PTSD gepeinigt sind. Ich kann nichts Schlechtes daran finden, ihnen zu helfen.“ Ein Mensch, der durch den Fluch seiner Erinnerungen verkrüppelt werde, erlebe eine Verminderung seines Menschseins. Dem schließt sich der Bioethiker Arthur Caplan aus Philadelphia an: „Die Vorstellung, wir müssten leidende Märtyrer unter uns haben, ist grausam und ausbeuterisch.“

Wenn es vertretbar sei, eine Infektion mit Antibiotika zu kurieren, fragt er rhetorisch, warum sollte es dann nicht in Ordnung sein, wenn man Probleme mit dem Gedächtnis und dem Denken mit Medikamenten bekämpft? ■

Rolf Degen

COMMUNITY LESEN

Marantz Hening

THE QUEST TO FORGET

The New York Times, 4. April 2004

]oseph LeDoux

DAS NETZ DER GEFÜHLE

Wie Emotionen entstehen

dtv, München 2001, € 11,50

Wolf Singer

DER BEOBACHTER IM GEHIRN

Suhrkamp, Frankfurt 2002, € 11,–

Candace B. Pert

MOLEKÜLE DER GEFÜHLE

rororo, Reinbek 2001, € 12,90

Daniel L. Schacter

WIR SIND ERINNERUNG

Rowohlt, Berlin 2001, € 14,90

INTERNET

Erik Baard

THE GUILT-FREE SOLDIER

New Science Raises the Specter of a World Without Regret

www.villagevoice.com/issues/0304/baard.php

KONTAKT

Roger K. Pitman

Harvard University

E-Mail: roger_pitman@hms.harvard.edu

Beat Lutz

Max-Planck-Institut für Psychiatrie

Kraepelinstr. 2 und 10

80804 München

Telefon: 089 |3 06 22–640

E-Mail: lutz@mpipsykl.mpg.de

Ohne Titel

bild der wissenschaft: Herr Professor Margraf, wie beurteilen Sie als Klinischer Psychologe die Versuche, das Posttraumatische Stress-Syndrom (PTSD) mit einer „Pille gegen die Angst“ zu bekämpfen?

Margraf: Wenn es wirklich funktioniert, ist nichts dagegen einzuwenden. Ich bin allerdings wenig begeistert von dem, was ich dazu bislang gesehen habe.

bdw: Worauf gründet sich Ihre Zurückhaltung?

Margraf: Ich bin sehr skeptisch, wie gut die Effekte wirklich sind. Denn es ist generell so, dass die Wirksamkeit psychopharmakologischer Methoden viel geringer ist, als man meint.

bdw: Die Wirksamkeit wird doch in veröffentlichten Studien nachgewiesen.

Margraf: Eben – in publizierten Studien. Wenn man, wie soeben geschehen und im medizinischen Fachblatt Lancet diskutiert, bei den Antidepressiva der SSRI-Gruppe die unveröffentlichten Studien dazu nimmt, sinken die positiven Effekte für die sechs gängigen Antidepressiva dramatisch. Die Antidepressiva der SSRI-Gruppe sind immerhin die Methode der Wahl. Bei fünf Medikamenten gab es gar keine Überlegenheit mehr gegenüber Placebos, wenn man die unpublizierten Studien dazu nahm. Das ist nicht berauschend.

bdw: Die Ergebnisse wurden immerhin in der renommierten Wissenschaftszeitschrift Nature veröffentlicht.

Margraf: Es gibt derzeit eine größere Affinität für biologisch begründete Untersuchungen, man kommt damit schneller in Nature hinein. Die biologische Welle ist eine Modeerscheinung.

bdw: Das Qualitätssiegel einer Methode ist die Dauerhaftigkeit der Behandlung – eine Forderung, die Sie vehement an Ihr eigenes Metier, die Psychotherapie stellen. Wie sieht es mit der Nachhaltigkeit bei der medikamentösen Behandlung aus?

Margraf: Wenn Psychotherapie gut ist, gibt es einen langfristig stabilen Effekt. Ich bin davon überzeugt, dass für eine Reihe von Psychotherapien solche nachhaltigen Ergebnisse belegt sind. Und ich bin überzeugt, dass dies bei der Pharmakotherapie aussteht. Die paar Studien, die es dazu gibt, sind methodisch sehr kritisch.

bdw: Also kein chemischer Weg aus der Angst?

Margraf: Psychische Störungen sind nicht einfach Hirnstörungen. Der Ort des Geschehens ist das Gehirn, aber das interagiert mit der Umwelt und lernt dabei. Lernen mit Pille geht nicht. Und die Leute lernen ja nichts bei dieser Umprogrammierung. Da wird viel Hurra geschrien – und das machen einige sehr kräftig.

Das Gespräch führte Michael Zick

Ohne Titel

Wie sich eine POSTTRAUMATISCHE BELASTUNGSSTÖRUNG im Gehirn festsetzt:

(1) Bilder von Ereignissen laufen über die Augen zunächst ins Sehzentrum im hinteren Okzipitallappen ein.

(2) Im vorderen Frontallappen nimmt das Bewusstsein anschließend eine Bewertung des Gesehenen vor.

(3) Das interpretierte Ereignis wandert zum „Gedächtnismanager“ Hippocampus, der es im Langzeitgedächtnis festschreibt.

(4) Wenn das Erlebnis intensive Gefühle, vor allem Angst, erregt, klinkt sich die Amygdala in den Speicherprozess ein. Sie gibt erregende Botenstoffe ab, insbesondere Noradrenalin. Das veranlasst den Hippocampus, das Geschehen besonders nachhaltig im Gedächtnis festzuschreiben. Das Ereignis brennt sich regelrecht ein – es entsteht eine Posttraumatische Belastungsstörung.

(5) Die traumatische Erinnerung ist nun über die gesamte Großhirnrinde verstreut. Der Mensch ist in seiner Vergangenheit gefangen.

THERAPIE MIT PILLE A: In den ersten Tagen nach dem Ereignis wird prophylaktisch der Betablocker Propranolol verabreicht. Der fängt das erregende Noradrenalin ab und verhindert so das „ Einbrennen“ des Erlebten als quälendes, immer wiederkehrendes Trauma. EXPERIMENTE MIT PILLE B: Das eingebrannte Trauma lässt sich – nach neuesten Versuchen – vermutlich auch noch Jahre nach dem Erlebnis „löschen“:

Der Patient versetzt sich wieder in das – in der Großhirnrinde (5) gespeicherte – traumatische Geschehen von einst hinein. Dazu wird ihm zum Beispiel sein Protokoll des Geschehens vorgelesen. Die Erinnerung wird dadurch generell „aufgelockert“ und ist für eine Neubewertung durch das Bewusstsein im Frontallappen (2) zugänglich. Hier setzen auch psychotherapeutische Methoden zum Abbau des Posttraumatischen Stress-Syndroms ein.

Normalerweise würde das erinnerte Erlebnis nun vom Bewusstsein neu kodiert und über den Hippocampus – in veränderter Form – wieder ins Langzeitgedächtnis übergeben. Bekommt der Trauma-Patient jedoch vor dieser erneuten Abspeicherung den Proteinblocker Anisomycin oder eine haschischähnliche Droge, werden die körpereigenen Botenstoffe wie Noradrenalin abgeblockt, die emotionale Verstärkung durch die Amygdala (4) bleibt aus: Der Hippocampus (3) speichert ein neu bewertetes, „normales“ Geschehen ab, das nicht mehr emotionsgeladen ist: Die traumatische Erinnerung an das quälende Erlebnis in der Großhirnrinde ist dadurch gelöscht. Dieser Mechanismus wurde bislang allerdings nur im Tierversuch nachgewiesen.

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