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Daheim ist’s am schönsten

Deutschlandkarten Gesellschaft|Psychologie

Daheim ist’s am schönsten
© Leibniz-Institut für Länderkunde 2016
Von zu Hause auszuziehen, ist ein Stück Freiheitsgewinn: Endlich steht man auf eigenen Beinen und ist den Eltern keine Rechenschaft mehr schuldig. Doch es bedeutet auch ein gutes Stück Bequemlichkeitsverlust: Man muss selbst kochen, waschen, putzen sowie Miete und Essen bezahlen. Warum also nicht im behüteten Heim bleiben? In Deutschland gibt es viele Nesthocker. Wo sie sitzen, verrät die Deutschlandkarte.

Ökonomisch betrachtet ist es unlogisch, aus dem Elternhaus auszuziehen. Schließlich kommen Kosten für Unterkunft und Verpflegung auf einen zu. Auch zeitökonomisch ist ein Auszug im Grunde fatal: Man muss nun den eigenen Haushalt schmeißen. Doch es ist wichtig, den elterlichen Herd zu verlassen, wie Inge Seiffge-Krenke, Professorin an der International Psychoanalytic University Berlin, erklärt: „Erwachsen werden bedeutet einen Beruf ergreifen und ausziehen, auf eigenen Beinen stehen, sich selbst ernähren, selbst Wäsche waschen und administrative Dinge erledigen.“ In Deutschland haben laut dem Statistischen Bundesamt trotzdem 62 Prozent der 18- bis 24-Jährigen im Jahr 2015 die Bequemlichkeit der Freiheit vorgezogen und lebten noch bei ihren Eltern. 2010 waren es 64 Prozent, also etwa der gleiche Anteil.

Wer noch im Alter von 26 Jahren oder mehr bei den Eltern wohnen bleibt, wird in der Psychologie als Nesthocker bezeichnet. Ein Phänomen, das mindestens seit den 2000er-Jahren, wenn nicht gar seit den 1990er-Jahren zunimmt. Ein Grund dafür ist, dass immer mehr Kinder länger zur Schule gehen, wie die Forscherin erläutert: „Ein Abitur ist heute der Standardabschluss, auch für eine Lehre. Konnte man früher mit 16 anfangen zu arbeiten, sind auch die Leute, die eine Lehre machen heute eher 20. Das heißt, eine längere Betreuung durch die Eltern ist gesellschaftlich notwendig.“

Doch auch die Eltern sind nicht ganz unschuldig. Die Forschung zeigt: Häufig hätscheln und verwöhnen sie ihre Kinder zu lange, haben selbst Trennungsängste und wollen die Nachkommen deshalb nicht gehen lassen. Ob nun der Eltern, der Bequemlichkeit oder der Finanzen wegen knapp 20 Prozent aller 25- bis 29-Jährigen lebten laut den Zensusdaten aus dem Jahr 2011 noch oder schon wieder bei ihren Eltern.

Unterschied zwischen Stadt und Land

Ein Blick auf die Karte zeigt: Dabei gibt es bundesweite Unterschiede, aus denen sich Trends ablesen lassen. Den auszugsfreudigen Nordwestlern stehen die daheimbleibenden Südostler entgegen. So lebten 2015 in Thüringen und Niederbayern mindestens ein Viertel der 25- bis 29- Jährigen noch im Elternhaus, während in Schleswig-Holstein und in den eher nördlich gelegenen Stadtstaaten nur zwischen 10 und 15 Prozent derselben Altersgruppe bei den Versorgern residierte.

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Ob Nord, Süd, Ost oder West – auffällig ist ein Stadt-Land Gefälle. Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen der Einwohnerzahl des Wohnorts und dem Anteil junger Erwachsener, die noch bei den Eltern leben. Genauer: Je größer der Wohnort, desto geringer der Anteil an Nesthockern. Dass Landeier eher zum Daheimwohnen tendieren und Stadtkinder früher flügge werden, kann daraus aber nicht abgelesen werden. Durch Hochschulen, die viele junge Studenten in große und mittelgroße Städte ziehen, wird der Anteil der jungen Erwachsenen, die eigenständig leben, dort automatisch höher.

Das belegen auch die Regionen, die auf der Karte hellgelb gefärbt sind und nur acht bis zehn Prozent Nesthocker haben. Denn was haben Jena, Freiburg, Kassel, Greifswald, Münster und Erlangen gemeinsam? Genau, bei allen handelt es sich um Universitätsstandorte. Ebenso die Übrigen der insgesamt 25 hellgelben Kreise, in denen nur maximal zehn Prozent der jungen Erwachsenen nicht auf eigenen Füßen stehen. Ob die aber nun Einheimische, Zugezogene vom Land oder aus einer anderen Stadt sind, lässt sich nicht sagen.

Religion als Ursache

Ein weiterer Faktor, der den Unterschied zwischen  Stadt und Land, aber auch das Nordwest-Südost-Gefälle beeinflussen könnte, ist die Religionszugehörigkeit der Bewohner. Das legen die Statistiken für Niederbayern, das Emsland und das oldenburgische Münsterland nahe – in diesen Gegenden gibt es viele Nesthocker und die Regionen sind stark katholisch geprägt.

Eine 2015 vom Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften veröffentlichte Studie zeigt, dass Katholikinnen besonders lange im elterlichen Haushalt wohnen, während konfessionslose Frauen früh zuhause ausziehen. Wie das bei jungen Männern aussieht, ist bisher nicht erforscht. Und auch im Europavergleich ist das Auszugsalter in katholisch geprägten Ländern höher. Neben dem engen Familienzusammenhalt ist der Glaube ein Grund für den späten Auszug junger Südländer, erläutert Seiffge-Krenke. In katholisch geprägten Ländern wie Italien oder Spanien gibt es kaum Studentenwohnheime oder Wohngemeinschaften. Die „Kinder“ verlassen das Haus der Eltern oft erst mit der Heirat.

Selbstständige Frauen

Sowohl die deutschen Landkreise als auch die europäischen Länder verbindet eine Gemeinsamkeit: Frauen bleiben seltener im elterlichen Nest wohnen als Männer. Nur 13,2 Prozent der jungen Frauen wohnten im Alter zwischen 25 und 29 Jahren noch bei den Eltern. Bei den Männern waren es ganze 26,1 Prozent. Früher nannten Soziologen als Grund dafür den längeren Ausbildungsweg von Männern durch Bundeswehr oder Zivildienst. Das kann nach der Abschaffung der Wehrpflicht 2011 zwar noch für die im selben Jahr erhobenen Zensusdaten, aber nicht mehr für den von Seiffge-Krenke hervorgehobenen anhaltenden Trend zum Nesthocken gelten. Wie erklären Forscher demnach den Geschlechterunterschied? Generell gebe es bei Mädchen die Tendenz dazu, früher selbstständig zu werden, sagt Seiffge-Krenke. Ihre Mütter stillen sie früher ab und umsorgen sie kürzer als Jungen. Die Psychologin erklärt das Phänomen: „Das muss eine Entwicklung über Jahrhunderte sein, bei der der Erbe, der Sohn, länger umsorgt wurde, während die Tochter ruhig früher schon mal selbstständig werden konnte.“

© wissenschaft.de – Xenia El Mourabit
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