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Das Gute an der Warteschlange

Gesellschaft|Psychologie

Das Gute an der Warteschlange
Wer warten muss, tut dies mit Gewinn, wenn sich hinter ihm noch viele drängeln.

Vielen Menschen bereitet es Unbehagen, in einer langen Warteschlange zu stehen. Wer mit dem Gedanken liebäugelt, unverrichteter Dinge wieder zu gehen, sollte diese Entscheidung vernünftigerweise davon abhängig machen, wie viele Wartende er noch vor sich hat. Doch erstaunlicherweise ziehen die meisten Anstehenden auch die Länge der Schlange hinter sich ins Kalkül. Sie werden von zwei Marketing-Professoren an der Hongkong University, Rongrong Zhou und Dilip Soman, unterstützt.

Eine lange Schlange ist ein starker Hinweis, dass es mit der angebotenen Dienstleistung vor uns etwas auf sich hat. In sozialistischen Ländern war das tatsächlich so: Schlange stehen hieß, eventuell etwas Rares ergattern zu können. Neben diesem materiellen Wert bietet die Schlange dem Wartenden zusätzlich die hervorragende Gelegenheit, sein Los durch einen sozialen „ Abwärtsvergleich” aufzuwerten: Wer in einer Krise steckt oder Probleme und Niederlagen überwinden muss, kann sein Selbstwertgefühl wieder aufrichten, indem er sich an denen misst, denen es noch schlechter geht. Aus einem solchen Stimmungsaufheller zieht der Mensch den Schluss: Es könnte noch viel schlimmer sein, ich bin noch ganz gut weggekommen.

Warteschlangen provozieren soziale Vergleiche, weil sie jene deutlich vor Augen führen, die besser oder schlechter dastehen. Dass Menschen sich in dieser Situation „nach hinten” orientieren, demonstrierten die chinesischen Forscher mit einer Feldstudie. Sie observierten Menschen, die während der Mittagspause an einem Geldautomaten anstanden.

Wie zu erwarten, hing die Geduld eines Wartenden von der Zahl der vor ihm Stehenden ab. Aber nicht nur. Nachdem die Forscher diesen Effekt statistisch herausgemittelt hatten, kam etwas anderes ans Licht: Je mehr Mitwartende hinter den Versuchsteilnehmern standen, desto geringer wurde die Neigung, aus der Schlange auszubrechen.

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Vielleicht wollen die Wartenden anhand der Zahl der Menschen hinter sich nur abschätzen, wie lange sie anstehen müssten, wenn sie später wiederkämen? Diesen nahe liegenden Einwand haben die Wissenschaftler mit einer Veränderung des Versuchs ausgeräumt. Diesmal sollten sich die Probanden vorstellen, dass sie an einem Postschalter Schlange stünden, um einen dringenden Brief aufzugeben. Als Alternativen standen zur Wahl:

• In der Schlange auszuharren oder

• gegen eine Extragebühr an einem Express-Schalter sofort bedient zu werden.

Mogeln ging nicht: Die Möglichkeit, später wiederzukommen, wurde ausgeschlossen. Auch in dieser Variante stärkte das rückseitige Publikum den Durchhaltewillen der Schlangesteher: Je mehr (imaginäre) Wartende jemand hinter sich verspürte, desto bereitwilliger blieb er in der Schlange und ließ sich die VIP-Behandlung entgehen.

Die Möglichkeit, sich mental von „denen da hinten” abzusetzen, verbesserte auch die Gemütsverfassung: In einem weiteren Versuch haben die Forscher Daten über das Befinden ihrer Probanden erhoben. Die Quintessenz: Je länger die Schlange hinter ihnen war, desto mehr stieg die Stimmung der Wartenden.

Zhou und Soman schreiben dieses Ergebnis der menschlichen Neigung zu, sich in Notlagen mit jenen zu vergleichen, die noch übler dran sind. An Gedanken wie „Die müssen noch länger warten als ich” oder „Ich wette, die wären jetzt gern in meiner Position” ziehen die Wartenden sich selber hoch.

In alternativen Systemen, wo die Wartenden eine Nummer ziehen müssen, bleibt das Los der Schicksalsgenossen fast unsichtbar. Dadurch wird es nahezu unmöglich, sich an deren schlechterer Lage aufzurichten. Schlangesteher, die viele hinter sich hatten, so fanden die Marketing-Experten heraus, waren besser gelaunt und brachen das Warten seltener ab als „Nummernzieher” in der gleichen Situation. ■

Rolf Degen

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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♦ hy|dr…, Hy|dr…  〈in Zus.〉 = hydro…, Hydro…

♦ Die Buchstabenfolge hy|dr… kann in Fremdwörtern auch hyd|r… getrennt werden.

Acker|bau|er  〈m. 16; veraltet〉 jmd., der Ackerbau treibt, Bauer

Bri|ard  〈[–ar] m. 6; Zool.〉 große frz. Schäferhundrasse

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